Neujahrsseufzer

     

"Der Rummel ist vorbei," lobte Gabriel der Große, Rangstufe Erzengel, einen seiner Untererzengel, Gabriel den Kleinen. "Gute Arbeit, die Festtage über! Kannst n`bißchen freimachen."

Seine unkultivierten Sätze zeigten, wie total alle die himmlischen Heerscharen alle Jahre wieder nach den Feiern zum Gedenktag der Geburt ihres Chefs Jesus waren. Gott sei Dank, daß man die genaueren Geburtstage der beiden anderen Chefs, des Vaters von Jesus, Gott selbst, und dem auch nur ungenau geborenen Dritten im Bunde, dem Heiligen Geist, nicht ebenso aufwendig jährlich feierte.

Gabriel der Kleine wollte keinen Urlaub, beginnender workaholic.

"Aber Silvester - gibts da keinen Dienstplan?" Der Erzengel tippte an seine hohe Stirn, von der die Hl. Jungfrau immer schwärmte, weil sie eine hohe Stirn mit hoher Geistigkeit verband. Keiner mochte ihr sagen, daß manche hohen Stirnen der dienstälteren Erzengel schlicht beginnende Glatzen waren.

"Aber, aber - Silvester ist doch ein weltliches Fest, menschengemacht, wie die meisten anderen schweren Zeiten auch," lehrte Gabriel der Große, "mach frei!"

Weil Gabriel dem Kleinen nie was Besseres als seine irdische Lieblingsgegend einfiel, floh er in seine Ostecke der Lüneburger Heide.Schließlich hatte er dort sein irdisches Leben verbracht und chronisches Heimweh danach ins ewige Leben mitgenommen.

Nun ohne Arbeit erfaßte Gabriel den Kleinen jene übliche nachfestliche depressive Verstimmtheit,

 

die nur verstärkt wurde, als er seine Heidjer zwischen Alt-und Neujahr beobachtete.

Was für Unzufriedenheiten, Ängste, Zukunftssorgen, die er in den kleinen Städten der Ostheide antraf: Verödung der Ladenzeilen, Verringerung der Geburten und Jugend, Vervielfachung alter Menschen sowie der privaten und öffentlichen Schulden. Und - Angst vor dem endgültigen Verlust von Gemeinde - und Landkreisgrenzen. Alles würde ein Brei ohne Gesicht werden. Mein Gott, dies Land hatte Herzögen widerstanden, Kurfürsten und Königen, Napoleon und weitaus schlimmeren Führern und nachfolgenden Demokratie-Versuchern...

Ach! seufzte Gabriel der Kleine. Wenn er doch nur den seufzenden Pendlern zeigen könnte, wie nah verwandt ihr Leben mit denen reicher römischer Senatoren waren, die sich in ihren Städten abrackerten - um dann in die kleine Villa auf dem Land fliehen zu können. Was Pendler täglich heimkehrend kurz und an jedem Wochenende lang genießen durften. Senatoren nur sommers. Wenn sie nur erkennen könnten, wie ihre Gesundheit sich viel gesünder leben läßt, weil sie den Wechsel der Jahreszeiten durch Schlittenfahren auf dem Königsberg in der Stadt oder hinter dem Traktor her auf dem Dorf winters und Hitze in Wassern der Ilmenau, Schwienau und anderen Auen sommers erleben dürfen. Statt in Steinwüsten Staub auf allen Blättern und in den Lungen, Streusalz auf den Strassen und Dreck an deren Rändern erleiden zu müssen - haben sie dies Land um sich!

Ach! - seufzend döste Gabriel der Kleine hinüber in ein erholsames Nickerchen, das ihm eben nur in dieser kargen, reichen Ecke seiner früheren irdischen Heimat möglich war.



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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
28. Dezember 2010