Von Adveihnachten

     

Auf einer Ärzte- und Therapeutentagung passierte dem Gastgeber beim Wünschen für Advent und Weihnacht, neues Jahr usw.usf. der Versprecher, der dieser Kolumne den Titel gab: Adveihnachten . Solch Versprecher-Verkürzer wird vom Zeitüberdruck geboren.
Nächsten Sonntag ist 1. Advent und neben Weihnachtsliedern schallt der Kampfruf gegen Weihnachts – und andere Stressoren: „Abschalten müßte man können, einen ungestörten Keks mit Blick ins Kerzenlicht und `Oh du fröhliche` vom Player“! Abschalten!Ich höre den Kampfruf auch – aus meinem Mund und aus Mündern mir gegenüber.
Wirklich gute Ratgeber wissen, daß ihr Rat zum Abschalten mindestens auch ihnen selbst gilt – und falsch ist. 
Auf einer Weiterbildung für Fachärzte in der Psychiatrie (Karl Jaspers-Klinik Oldenburg) ging es um „Übergänge“ und deren Gestaltungen, deren Fehlen im menschlichen Alltag immer mehr Menschen sich krank fühlen und krank werden läßt. Manchmal nur unbewußt gekränkt fühlen läßt, weil die Restlebenszeit derart wenig Zeit läßt, dass wir unsere Selbstbeschreibung aus der Welt der Physik ausleihen, der Welt der mechanischen, elektrischen und digitalen Maschinchen für postmoderne Kommunikation. Die können um- und abgeschaltet werden. Wir?
Abschalten geht nicht, sagen Neurowissenschaft und Wahrnehmungspsychologie. Abschalten geht nicht – das fühlen eigentlich alle, die noch Restbestände an Gesundheit leben. Hingegen können wir Übergangshilfen (wieder) erinnern,  die uns durch die Verschiebung natürlicher Kommunikation auf die virtuelle Ebene abhanden gekommen sind.

 

Philosophen wie W. Schmidt, O. Negt u.a. schütteln die eigenen Köpfe und die anderer gleich mit angesichts der Gefahr durch den Verlust von Ritualen, die eigentlich mal Hilfen waren für Übergänge zwischen Arbeits- und Frei-Zeit, zwischen Krank- und Gesundsein, zwischen Zeiten für Durchsetzung oder Hingabe, für den Übergang vom Trauermonat November zum Advent und weiter in die schnelle Serie der Übergänge bis in das neue Jahr. Übergangsrituale sind immer Abschiedshilfen von etwas weg – zu etwas hin.
Das alles kann ge- oder gründlich mißlingen. Besonders große Abschiede und große Feste. Unsere Über- Erwartungshaltungen  lassen grüßen.
Großtante Gertrud war bescheiden. Sie beharrte darauf, zwar  total unmusikalisch zu sein. Aber von Advent an strömten die Melodien auch aus ihr. Zwar halblaut, weil intonationunsicher und deshalb nur von ferne ahnbar, dafür herzlich. Wenn sie nicht – naja –„sang“, erzählte sie uns Geschichten, die arme Kinder reich machten, verreiste Eltern wiederkehren ließ, Märchen, die von Traurigkeit zum rauschenden Fest führte. Wenn wir 1948/49 wegen zu wenig Essbarem krank wurden – und  später  wegen zu viel Fett an der Gans oder Süßigkeiten – spielte sie Gestalten und wir waren der Potpourri-Chor und tobten  zwischen „Das Schwein muß dran glauben und diese Gans auch“ und  „Morgen Kinder wird’s was geben“. Advent war mal mehr als eine Metastasierung des außerweihnachtlichen Konsums, mehr als der Beginn eines neues Kirchenjahres. Es war eine mehrwöchige Übergangshilfe meteorologisch wie psychisch und damit spirituell. Kein Adveihnachten.




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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
27. November 2012