Mücken

     

Da sagt doch Alexander, mein nächster Nachbar, tatsächlich und im Ernst, sie seien nötig. Mücken nämlich. Manchmal hat er sie nicht alle mit seinen Alltagsphilosophien.

Ich hingegen habe schon vor langer Zeit – da sah unsere Nation mit drei Generationen noch „Sissy“–Filme im Kino, dann auf VHS, dann auf DVD und heute immerhin noch jede Weihnacht – ich hingegen also habe schon damals geschrieben und veröffentlicht (die AZ berichtete) und mich beschwert darüber, wie unwahr alle diese Liebesszenen von Karlheinz und Romy bei den Wittelsbachern im schönen Bayern, im noch schöneren Österreich und später in Ungarn, im traumhaften Italien seien: denn nirgendwo kommen da Mücken vor! Keine Durchlaucht schlägt kurz vor dem Küssen oder Handküssen jäh irgendwohin, kein Kronprinz wedelt auch nur vornehm gegen Mücken. Als ob es sie nicht gebe!Dagegen ist der Film „Tati`s Schützenfest“ehrlich, weil Tati kaum auf seinem Rad vorwärtskommt, weil er psychiatrisch auffällig um sich schlägt – aber normal ist, weil er gegen Mücken kämpft.

Dabei lese ich in den Tagebüchern meiner Ururgroßmütter, was die alles gegen Mückenplage in der Heide anstellten: Kräuter-Räuchereien wurden auf den Veranden aufgebaut, ganze Ladungen von Bettlaken und Tülltüchern oder die Schleier der Brautkleider wurden ums Bett gehängt, zur Not auch der Talar des Pastorenmannes und sich darunter und dahinter vor ihnen versteckt: vor Mücken. Morgens zeigte man sich – je nach Persönlichkeitsstruktur – stolz die nachts im Schlaf erworbenen Stiche wie mannhaft erworbene Schmisse im tapferen Kampf (narzißtischer Profilierungstyp). Oder zeigte wehklagend bis in den Mittag hinein die durch rote Krater mit Einstichlöchern verringerte Hautschönheit (eher depressiv-hypochondrischer Typ).
  Unabhängig von der Persönlichkeitsstruktur kratzte man sich gemeinsam, trotz Essigtinkturen und Tabletten, trotz fleißig rauchenden Herren und anderen wirkungslosen Medikationen gegen Mücken und ihre Folgen.

Jetzt sind wir fünf Jahrzehnte weiter als die Sissy- oder Immenhof-Filme und hundertzwanzig Jahre weiter als meine Ururgroßmütter – und immer noch kein sicheres Mittel gegen die Garantie-Gefährdung der schönsten Abende des Jahres durch diese Viecher. Wir fanden und erfanden zwischenzeitlich Landungstechniken auf dem Mond und weiter weg, wir kriegten Fernsehen, Handys, Internet, wir können schlimmste Erbkrankheiten verhindern und die Frauen kriegen Kinder ohne Männer, jedenfalls beinahe, – aber ein Mittel gegen Mücken gibt es nicht.

Unsere Ferienhausvermieterin Frau Frankenstein- sie wirkt gänzlich gegenteilig als ihr Name denken läßt – sagt, sie bade mit ihrem Mann Jürgen in Autan, weil sie fast im Schilf lebt am Peenestrom. Aber solch Chemie ist nur ein Placebo, denn die nächste Mücke stürzt in neues Kratz-Elend. Auch Christine in Jasedow – einige Dörfer weiter vom Schilf entfernt am kleinen See– klagt und soeben kommt die Nachricht aus dem Kreis Uelzen (vergleichsweise ohne Wasser): Mücken im Angriff. Und keiner hat ein Mittel dagegen.

Aber jetzt dieser Alexander auf meine Klage wegen der Plage, daß Gott sowas in der Schöpfung eingerichtet habe, um uns durch solche Winzigkeiten wie Mücken unsere Grenzen mitten im Zentrum der Hochzivilisation aufzuzeigen. Er hat sie nicht mehr alle, dieser Möchtegern-Philosoph! Ich meine nicht Gott, ich meine Alexander.




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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
27. Juli 2010