Erinnerungen an heute
Hans-Helmut Decker-Voigts Kolumne erscheint alle zwei Wochen in der Uelzer Allgemeinen Zeitung. Hier an dieser Stelle wird es ein- oder zweimal im Monat eine neue Veröffentlichung geben.
Fußballphilosophie Teil III

Unsere Fußballstars sind dringend nötige Nachfolger von den Göttern unserer Vorfahren. Wir haben sonst keinerlei Götter mehr, die die Völker dieser Welt derart einschwören können auf gemeinsamen Jubel, auf nationales "Wir-Gefühl". Selbst unser Straßenverkehr ist schwarz-rot-gold geworden und Staus bieten, was wir sonst vermeiden: Ein Fahnenmeer.
Diejenigen von uns Heutigen, die den politischen und christlichen Göttern unserer Großeltern auch nicht mehr trauen, finden sich ebenfalls wieder in der
Pazifik-Woge von Begeisterung, ausgelöst und festgemacht an ihnen: Den Klinsmännern, Ballacks.
Unsere ausländischen Gäste erleben dasselbe: Kein Königshaus, kein politischer Führer auf Mutter Erde eint ihre nationale Gruppe so wie diese elf Götter eines Spiels mit ihrem Ball, der diese Mutter Erde nicht nur symbolisiert. Sondern dessen Spieler die Kinder der Mutter Erde eint wie nicht mal ein Papst. Oder ein Olympionike. Oder ein Dalai Lama. Oder ein Formel 1 - oder Tennis-Weltmeister. Oder eine Mutter Theresa. Oder ein Hitler. Gegen die sind immer auch mehr gewesen als gegen Fußball. Perspektiven auf heutigen Fußball verdrängen Pluralismus, überrollen ein Dagegensein.
Wir überhöhen unsere Fussballer ja auch freiwillig. "Fußball-Erd-Meister" statt Welt-Meister würde ja schon reichen. Aber es handelt sich eben um unsere Not, dass wir Götter umso dringender brauchen, wie sich die alten nicht bewährten oder neue nicht durchsetzten. Mit Ausnahme des Gottes "Konsum" - wie der Freizeitforscher Opaschowski sagt.

 Diese Fußballmeisterschaft verändert sogar deutsche Frauen, die sich sonst nicht um Männer oder Fußball kümmern. Und dies, obwohl die Fußball-WM der letzte Rest reiner absoluter Männerdomäne ist. Wo dürfen emanzipierte (Frauen-) Gesellschaften noch einer Gruppe zujubeln, die nur aus Männern besteht - außer bei Fußballmeisterschaften? Noch dazu Männern, die nach jedem Spielerfolg Dinge machen dürfen, die Männer sonst nicht tun: Umarmen, begeistert Übereinanderherfallen, Abküssen…
Fußball-Götter wie unser deutscher Kaiser Beckenbauer werden auch vom Papst empfangen - vom Stellvertreter des christlichen Gottes. Der Papst wird erst recht Meister der Welt empfangen, wo er nur Stellvertreter Gottes auf dieser Erden ist. Was würden wir als Fußballweltmeister ihm als Gastgeschenk im Vatikan überreichen? Richtig. Einen autographierten Fußball. Womit wir wieder beim Symbol sind, denn Kaiser und Könige trugen als Insignie auch nur Rundes in der Hand. Als Zeichen, dass sie von Gottes Gnaden sind. Fußballer stehen darüber: Sie verschenken als von uns ernannte Meister der Welt ihre ja nur irdische Insignie.
Unsere Fußballstars sind die letzten Meister des Runden, also dieser Erde. Deshalb schaffen sie, was keine Politik, keine Pädagogik, keine Psychotherapie seit 1945 und schon gar nicht die Wiedervereinigung schafften: Ein neues nationales Wir-Gefühl.
Vielleicht beneiden wir nach dieser WM die Skandinavier oder Schweizer nicht mehr um ihre Unbefangenheit, ihr ungebrochenes nationales "Wir-Gefühl", mit dem sie ihre Nationalfähnchen vor jedem Wochenendhaus hissen.

(27. Juni 2006)

Den Autor erreichen Sie unter: Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de