„Beileid“ und andere Sensibilitäten

     

Das Vorrecht, die Verrohung unserer Sitten anzuprangern, gehörte mal nur Älteren. Jetzt aber schimpfen schon die Jungen, der Mensch würde immer unberechenbarer.
„Da tritt der Kollege auf meine Seele –  murmelt ein `tut mir leid`, wie wenn er sagt `Pass auf!`“ In der Tat: Unseren Gesichtern ist immer weniger abzulesen, ob nun gleich aus dem zugehörigen Sprechwerkzeug Soziales oder Unsoziales oder Asoziales kommt.
„Nehmen wir die Kommissare im Krimi als Spiegel der Gesellschaft“ fauchte eine Psychologin auf der Tagung, die auf Trauerarbeit hin spezialisiert. “Die Kommissare stehen da filmserienweise an den Türen oder im Flur und sagen den Angehörigen eines Mordopfers oder Verkehrsunfalls, dass sie nun Hinterbliebene sind – und geben dem, dem sie das sagen müssen, nicht die kleinste Chance, sich vorher zu setzen.“
Oder das berüchtigte „Mein Beileid“. Es erklingt meist im Stile eines eiligen Freikaufs von weiteren Wörtern. Immer öfter verschwindet auch das „Mein“ und es bleibt nur noch „Beileid“ übrig. Schweigen ist barmherziger. 

Erinnern Sie sich an den hier schon mal anders erzählten Test, den Mark Twain in einer Gesellschaft machte, weil ihm die ganze amerikanische Party-Gesellschaft und ihre überflüssigen Worthülsen oder ungehörten wirklich wichtigen Wörter zum Hals raushingen?
 

Er rief mal eine Gastgeberin an und sagte, er käme eine Stunde später. Kam er auch und entschuldigte sich bei ihr mit dem Hinweis, dass seine Frau gestorben sei. Deshalb die Verspätung.
„Macht doch nichts, enjoy the party,“ antwortete die Dame, froh, nun doch mit ihm angeben zu können. Mark Twain wiederholte seine verstorbene Frau, deretwegen er sich leider etwas verspätet habe, noch weitere zehn Male bei anderen Gästen. Insgesamt elf mal. Erst der elfte Mensch wich ab, sagte auch „No Problem, enjoy…“ um dann „hinterherzuhören“ und seiner Ungläubigkeit Ensetzen hinterherzusetzen. „Oh my God…!“
Ich hab`s mal nachgemacht. Jetzt. In einer dieser unvermeidlichen Pflichttreffen in Hamburg mit Käseschnittchen in der einen und dem Orangen/ Ginglas in der anderen Hand. Nein, nicht mit Christines Tod. Aber auf die Frage, wie mein Gesundheits-Check in der Klinik gewesen sei, verschob ich mein Gesicht Richtung Lächeln, sagte „danke für die Nachfrage, schlimm war`s.“
„Dann ist ja gut…“ kam die Antwort.

War nur mein Test. Mir geht’s gut. Schon, weil mein Beruf gute Umsätze macht bei der Ware: „Authentisches Verhalten“ (was ich übe für das nächste Großfamilientreffen – das Ekel Tante Ulrike kommt wieder).



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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
27. Februar 2018