Die Postbotin

     

Die Todesanzeige von Else Günnel aus Hösseringen zeigte mir einmal mehr:

Ich bin ein deutlich älterer Mensch. Der untrügliche Anzeiger dafür: Ich finde immer mehr Personen, Situationen und Emotionen in der Vergangenheit besser als Vieles in der Gegenwart. Z.B. das Leben von Postboten und Botinnen.

Else Günnel in Hösseringen war jahrelang „unsere Post“. Sie schob ihr Fahrrad den langen Weg von „Hinter den Höfen“ hinauf zur „Alten Schule“, in deren allerletzter Zeit noch die Junglehrerin (heißt heute: Referendarin) Christine unterrichtet hatte – bevor wir die entschulte Schule kauften, um sie später zu verlieren.

Nicht verlierbar ist die Erinnerung an Menschen wie „Frau Günnel“. Altmodische Tugendbegriffe lebte sie ganz einfach, ohne sie sich vornehmen zu müssen.

Ich zähle Frau Günnels Tugenden als Postbotin auf: Verlässlichkeit (heißt heute: logistische Kompetenz). In Wintermonaten, an die die jetzigen mit angeblich unbewältigbaren Schneemengen gerade mal rankommen, schob Frau Günnel ihre Post incl. Paketen, Zeitungen ebenso pustend zu uns auf die Anhöhe wie sie das in 30 Grad schwüler Sommerhitze tat. Wobei das Pusten dasselbe blieb, denn sie hatte wirklich viel zu schieben und zu schleppen und nicht in gelben Postautos.
 

Sie radelte uns Telegramme am Wochenende ins Haus, brachte Zettel mit Nachzahlungsbeträgen mit, weil die an ihrem Haus im Briefkasten eingeworfene Post mangelhaft frankiert war. – und ließ uns nur das Fehlende zahlen. „Straf-Porto“ wie in der Stadt? Unbekannt. Aber bei uns heute noch.

Und Menschlichkeit: Es war immer Zeit für die wechselseitige Erkundigung nach Krankheiten im Haus, nach Festverläufen, nach Traurigem und seinem Gegenteil. Kurz: Die Zeiten einer Else Günnel waren Zeiten einer nahen Dauerbeziehung (heißt heute: kontaktintensivere Bezugsperson). Ihre Nachfolgerin und Schwägerin, Frau Röling, war alles dies auch, auf ihre Weise, wie jede Postlerin, jeder Postler eben seine Persönlichkeit in die Kommunikation einbrachte.

Ich bedauere die Generationen nach den Frau Günnels und Frau Rölings trotz ihrer heutigen schicken Vierjahreszeiten-Kluft, ihrer gelben Dienstautochen, ihrer computerisierten Quittungsgeräte. Ganz abgesehen von der Unberechenbarkeit, ob „die Post“ um 11, 30 kommt (manchmal) oder wegen Überlastung gegen 16 Uhr (überwiegend) – sie versuchen in einer dienstzeitkontrollierten, anonymisierten Service-Gesellschaft die gleiche Menschlichkeit zu pflegen.

Adieu Frau Günnel – und Dank all denen von früher und heute.




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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
26. Januar 2010