| Die Zeitungs-Meldung liegt mir schon länger vor, aber wie  bei allen Schock-Meldungen braucht es Zeit, sie seelisch zu verarbeiten. Es ging in der Meldung um einen angeblich glücklichen Herrn namens  Michael Basting (31). Er sagte jedenfalls, er sei glücklich. Aus zwei Gründen:  Erstens kommt er in das Guiness Buch der Rekorde, zweitens wegen des  Schnellküssens von (111) Frauen in nur 60 Sekunden.
 Ich bezweifele das Glück dieses Guiness-Gekrönten. Ich  behaupte, dass er tiefes Mitgefühl verdient, Gebete braucht, Fernheilungen  benötigt von dem Irrtum, dass seine Rekord-Tat überhaupt in den Bereich des Küssens  fällt.
 Küssen gehört (lexikalisch) ganz allgemein „zu den Bezeugungen  von Zuneigung, gegenwärtig überwiegend zum Auslösen von Austauschprogrammen erotisch-sexualisierender  Reizketten“.
 Ich startete eine Schnellumfrage bei Studenten, die das  Lexikon folgendermaßen bestätigten: Verwandtenküsse: na ja… Freundschaftsküsse:  ach ja…die letztgenannten Küsse: o ja!.
 Dann studierte ich für jenen armen Kerl, der wegen Küssens  ins Guiness-Buch kommt, weiter: Religiöse Küsse und ihre Funktion (einer der  Küssenden überträgt Heilungs- und Kräfteimpulse). Ist das Kussobjekt kein  Mensch, sondern ein Altar, ein Kultbild, ein Kreuz oder Mekka - dann wird sogar  göttlicher Segen erküsst. Handküsse und Fußküsse sind hingegen Zeichen der  Unterwerfung.
 |  | Zurück zur zweiten und Hauptsorte: Der arme Mann da mit  seinem Abküssen von 111 Frauen in 60 Sekunden muss auf das eigentliche des (erotischen)  Küssens verzichtet haben. Er hat all die das schwere Leben kurzfristig zum  Paradies machenden Veränderungen der Körperchemie der Küssenden gar nicht  genießen können (schönste Hormonausschüttungen, ß-Endorphin-Produktionen usw.  usf.), er hat die noch schöneren Folgen dieser körperchemischen Veränderungen  in der Seelenlandschaft der Küssenden gar nicht erfahren können. Stattdessen  jagt der Mann von gespitzten Lippen zu gespitzten Lippen (sie machten alle mit,  die 111 Mädchen und Frauen, las ich) und weiß gar nicht, was er da macht. Es gibt nur außererotische Gründe für seine Aktion: Er hat  vielleicht eine (blöde) Wette abgeschlossen, die er aufgrund Überreizung und  daher Reizverkümmerung noch lange bereuen wird. Oder er hat eine Buße für eine  schlimme Tat zu tun, denn es gibt auch den Kuss als Friedens-oder  Versöhnungszeichen.
 Oder aber er hatte nur Hunger. Denn ganz ursprünglich soll  der Kuss  bei uns Menschen von denjenigen  Tieren herrühren, die sich von Maul zu Maul, von Schnauze zu Schnauze, von  Schnabel zu Schnabel ernährten.
 Ich würd ihn gerne fragen, diesen Mann, was ihn trieb. Denn  der kann auch keine Rolle gespielt haben. Der Trieb. Außer dem ins Buch der  Rekorde.
 |