Stress-Mauser

     

Dr. Kiefer ist Ärztin, aber nicht für Kiefer(orthopädie) sondern für Tiere. Als „Aria“, die Appenzeller Hündin der Familie, auf dem Behandlungstisch lag, fielen Christine und mir als Erziehern Arias der viele Haarausfall in wenigen Minuten auf. „Immer so,“ sagte Frau Dr. Kiefer, „Stress-Mauser“.

Das sei normal: Tiere, wenn sie denn ein Fell haben, mausern und verlieren an Ort und Stelle sofort Haare, wenn das Leben ihnen stressig kommt. Also viel Stress=viel Haarausfall, wenig Stress=wenig Haarausfall. Meinen Hinweis, dass Stress ja eigentlich sehr gesund sei (sogenannter Eu-Stress, abgeleitet vom griechischen „eu“) nur Dis-Stress und Over-Stress eben nicht, tat Frau Dr. Kiefer mehr in den Bereich der Humanmedizin und Psychologie ab ab.

Frau Dr. Kiefer gefiel mir sehr: Dichtes rotes Haar wucherte so üppig in die Runde und die Länge dieser Welt, dass es mit einem dicken Haarband in Frau Dr. Kiefers Nacken gebändigt werden mußte, um sich nicht mit den Fellen ihrer Patienten, wenn sie denn welches haben, zu vermischen. Es war ein heißer Tag und Frau Dr. Kiefer hatte dreiviertellange weiße Hosen an, Tierarzthosen und Sandalen, so daß ich auch ihre Waden gut sehen konnte: Da war das rote Haar nicht zu sehen, vielleicht peeling oder so. Frau Dr. Kiefer hatte also offensichtlich viel Freude an ihrem Beruf und kaum (Dis-) Stress.

 

Wir gingen tiefer in das Thema: Hat die Menschheit seit den Jahren, in der keine Mode sie umhüllte, sondern natürliches, eigenes Fell, ihr Fell durch den zunehmenden Stress verloren? Ötzi soll schon kein eigenes Fell mehr gehabt haben – höchstens als Fellmantel. Wie früh begann die Stress-Mauser bei uns?

Und weiter: In meiner Kindheit und Jugend hatten die meisten Männer noch Haar auf dem Kopf – jedenfalls so bis vierzig-fünfzig. Und heute? Sogar junge Männer haben nur noch ganz kurzes, oft sogar keinerlei Haar mehr auf dem Kopf. Stress hat sich im 20. und 21. Jahrhundert offenbar innerhalb zweier Generationen derart erhöht, daß die Stress-Mauser den kargen Rest auf den Köpfen auch noch verschwinden ließ.

Mir fällt Schwager Fritz ein, der vergleichsweise viel Haare hat, schwarze, auf der Brust, auf den Armen und die ganzen Waden lang. Aber der ist als Studienrat auch schon in Altersteilzeit und das läßt hoffen: Wird der Dis-Stress wieder Normalstress, also gesund, dann kann unser Fell nachwachsen.

Ich nehme mir vor, unsere Tierärzte zuhause im Westkreis mal auf ihre Haare hin zu prüfen, wieweit sie unter overstress arbeiten und meinen eigenen Hausarzt in Suderburg auch – oder ob sie im Eustress auf uns Patienten zugehen. Wie Frau Dr.Kiefer in Greifswald. Und der Haarmangel gestaltete Friseur-Kunst ist.




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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
24. August 2010