Erinnerungen an heute
Hans-Helmut Decker-Voigts Kolumne erscheint alle zwei Wochen in der Uelzer Allgemeinen Zeitung. Hier an dieser Stelle wird es ein- oder zweimal im Monat eine neue Veröffentlichung geben.
Irrtümliche Untreue

Liebespartner, die die bittere Erfahrung machen, dass ihr Liebespartner noch jemand anderen liebt als sie, füllen unsere Filme, Romane, Klatscheinheiten und vor allem unsere eigenen Phantasien und in schmerzlicher Weise die Realität. Seltener gibt es Untreue aufgrund tragischen Irrtums. Ich kenne ein Liebespaar, bei dem sie aus Versehen untreu wurde. Und das in der eigenen Familie! Nennen wir die beiden Olli und Doro. Sie saßen mit seinem Vater, einem freundlichen großzügigen Herrn, bei einem freundlichen großzügigen Essen und der Ältere bot der Freundin seines Sohnes, eben Doro, immer wieder Freundlichkeiten und Speisen, Getränke und Lebenshilfen an. Während dieser ganzen ersten Zeit fühlte sich Doro sehr, sehr wohl. Unterhalb der Tischplatte flirtete ihr Fuß mit den Füßen von Olli, ihrem Freund, indem sie das tat, was Olli besonders liebte: Seine Beine abstreichen. Das beruhigte ihn immer so, meinte Olli. Was wohl übersetzt heißt: Ich bin froh, dass meine attraktive Freundin sich in Gegenwart auch anderer Männer hauptsächlich um mich kümmert. Wenn auch nur unterhalb besagter Tischplatte. Oberhalb der Tischplatte ließ Doro sich die Annehmlichkeiten seines Vaters sehr gefallen, älter, wohlhabender, erfahrener eben. Die Zuwendungskanäle einer jungen Frau gegenüber Männern verschiedener Generationen sind eben verschieden. Und umgekehrt. Die Ruhe bei diesem freundlichen gemeinsamen Speisen war jäh dahin, ja kippte in weniger als

dem berüchtigten Bruchteil einer Sekunde in peinliches Entsetzen für Doro, als ihr Olliver (er trinkt gerne Bier) plötzlich einmal wegen eines plötzlich eingefallenen Bedürfnisses aufstand - und sich das Bein, das sie bisher gestreichelt hatte (wir sind wieder unterhalb der Tischplatte) überhaupt nicht wegzog, ja, dass ein Bein einfach und selbstverständlich am Ort seiner bisher empfangenen Streicheleinheiten beharrte. Doro in ihrer innerlichen wie äußerlichen Blässe sah oberhalb der Tischplatte Ollis Vater an und - wie um sich das Entsetzliche nochmals zu bestätigen, was wir Menschen merkwürdigerweise ja oftmals brauchen, sonst würden wir die scheinbar unerträglichsten Film- und Buchszenen nicht freiwillig wiederholen - also zu dieser Bestätigung des einfach Unmöglichen, das geschehen war, tupfte Doro nochmals in die Richtung, in der sie bisher gestreichelt hatte. Und - obwohl Olli weg war - stand das Bein unerschütterlich weiter da. Sozusagen ihrem Tupfen entgegen. Und der Besitzer dieses Beins sagte souverän, ruhig, indem er die Gläser auf dem Tisch neu füllte: "Schade, dass du aufhörst - es war sehr angenehm." Als Olli zurück war von seinem Bedürfnis, hatte Doro dann das Bedürfnis, so schnell wie möglich ihrem Schrecken Worte zu geben. Worte, die die beiden Männer, Vater und Sohn, vergnügt beprosteten. Obwohl Doro ihrem Streicheln aprupt und für immer in solcher Situation öffentlich abschwor.

(24. August 2004)