Laugenbrötchen

     

Kreativität ist natürlich nicht überall. Aber überall gebiert sie eines: Sekunden oder Stunden der Überraschtheit. Hier ist eine solche Sekunde länger beschrieben:
Da saßen wir über Mittag in einer kleinen Konferenz, d.h. Kaffee, Tagesordnung und belegte Brötchen. Vier halbe normale Brötchen (Ei, Mett), vier dieser länglicheren halben Laugenbrötchen (Pute, Salami).
Vor den acht Bäckerwaren-Hälften saßen ein Hochschulkanzler, ein weiterer wichtiger Verwaltungsfachmann, eine Juristin, ein Kollege von mir und ich und arbeiteten uns durch die Punkte der Tagesordnung (Nebentätigkeitsanmeldungen im Öffentlichen Dienst) und die Brötchen.
„Wollen Sie nicht noch?“, bot der Gastgeber der Juristin eine restliche Laugenbrötchenhälfte (Ei) an, aber die lehnte dankend ab. „Zu viel jetzt.“
„Ein halbes?“, bat der Gastgeber und winkte mit der Hälfte der Hälfte des wirklich erstaunlich langen Laugenbrötchens. Erneut charmantes Kopfschütteln der Juristin, dann Innehalten:
„Ich könnte nur noch die Hälfte davon.“
Der Kanzler griff ein: „Bevor Sie jetzt in die Küche laufen und ein Messer finden – lassen Sie uns weitermachen.“ Aber da war die Winzigkeit schon geschehen: Der Gastgeber war an seinen Schreibtisch gegangen und hatte das halbe Laugenbrötchen mitten durchgeschnitten, wunschgemäß geviertelt. Mittels einer ebenfalls sehr langen Papierschere.

Es war der winzige Moment, in dem Menschen ihren Augen nicht trauen, weil da verschiedene Teile zusammenkommen, die normalerweise

 

nicht zusammen gehören: Schere und Laugenbrötchen.
Nach dem Moment des Staunens wurde es wissenschaftlich und „Kreativität“ wurde definiert als keineswegs immer nur funkelnagelneu Neues. Es reicht, bisherige Verschiedenheiten zusammen zu bringen und das geht überall.

Es ist ein tragischer Irrtum, Kreativität auf Berufe zu verteilen (Dirigenten, Kunstlehrer, Architekten und Schauspieler). Wir brauchen (schreibt der Schweizer Urs Frauchiger (in seinem Buch „Verheizte Menschen geben keine Wärme“): Kreative Straßenwischer, kreative Politiker, kreative Viehhändler, kreative Marktfrauen, kreative Beamte und kreative Tiefseetaucher“.

Die AZ-Reihe „Menschen….“ stellte viele MitbürgerInnen vor, deren Leistungen darin bestanden, scheinbar Unvereinbares zu vereinbaren: Einen Riesenbetrieb mit Arbeitslosen hochzuziehen (IDA), eine „Alltagsbetreuung“ in der Altenpflege oder Jugendarbeit immer wieder zu einer wirklichen „Begegnung“ werden zu lassen, auf die sich die Begegnenden freuen – das braucht Kreativität und die stemmt sich gegen das „Verheizen von Menschen“ zu Lasten ihrer Wärme. Die macht das nochmalige Teilen eines Laugenbrötchens möglich, obwohl es kein Messer gibt. Die lässt sogar Verwaltungsspitzen einer Behörde schwierige Vertragsentwürfe als etwas sehen, was die Lust am Neuen fordert: Kreativität (von lat. crescere= wachsen lassen).




Den Autor erreichen Sie unter:

Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
24. Februar 2009