Nekrophilie

     

Wenn die „Liebe zu den Toten“ unter diesem spannenden Begriff  „Nekrophilie“ gefasst wird, dann zählen Christine und ich auch zu den Nekrophilen. Weil wir gerne auf Friedhöfen schlendern und Grabsteine studieren. Besonders im Süden, beginnend im Allgäu: Skulpturenauf den Steinen , Engel, Putten, Halbreliefs der Verstorbenen, im Stein eingelassene Fotos in Schwarzweiß oder neuerlich Farbe, Lebensdaten, Namen, Sippen.
Ein verödeter Friedhof in Süd-Ungarn oder die oft hochgelegenen Friedhöfe um Wallfahrtskapellen erzählen sie: ganze Geschichten über Leben und Lieben vor dem Tod.
Der„ICD 10“ ist für Gesundheitsfachleute eine Art Duden der Krankheitsbeschreibungen für dieheutige Patientenwelt. Darin findet sich ein gleichnamiges Störungsprofil. Nekrophilie. Damit ist nicht „Liebe zu unseren Toten“ gemeint oder „Liebe zu Leichen“, noch genauer: Der ICD 10 beschreibt eine Sexualpräferenz für Leichen als Partner.
Die fühlen wir natürlich nicht. Wir präferieren, lieben Friedhofskultur und deshalb trauern wir jetzt immer mehr: Nicht über bestimmte Toten, sondern über die Friedhöfe. Denn diese werden hierzulande immer langweiliger: Die Grabsteingröße wird vorgeschrieben, die Gestaltung immer mehr.

 

Wenn ich mir einen Grabstein mit Engel wünschen würde, wie er auf jedem dritten Grabstein im durchschnittlichen Oberbayern die Toten bewacht – nur angenommen, den Wunsch habe ich gar nicht – würde mir der nicht erfüllt werden können.Wir werden immer standardisierter begraben und die Friedhöfe egalisieren wie die ganze Gesellschaft: Keine Engel, keine Bildchen, keine Hinweise auf Flugzeugabsturz da oder Verkehrs-Tod dort. Am besten ist einfach, weil billig: Name, Daten.

So bei uns. Der Friedhof  in Hamburg - Ohlsdorfu.a. sind Extreme zu unserer Langeweile. Dort flanieren, spazieren, schlendern und wandern Hamburger und ihre Gäste nicht nur zu Gräbern familieneigener Toten oder den Gräbern der vielen historischen oder jüngeren Promis aus Kunst, Politik usw., sondern weil dort Menschen wie Du und ich beerdigt wurden und etwas mehr auf den Grabsteinen stehen darf, neben und vor die Grabsteine gestellt werden darf. Wie in Bayern oder Italien: Ein Foto des Segelschulschiffs, auf dem die tote Marineärztin behandelte, der Hof des Marsch-Bauern, für den der lebte und starb, die Großmutter mit 21 Enkeln (Farbphoto), die einen Verein für Theater gründete.Protestantisches im Norden ist nüchtern, Katholisches im Süden spannend. Aber ganz im Norden, auf Föhr, dort erzählen die Grabsteine auch wieder ganze Geschichten.



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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
23. Mai 2017