Erinnerungen an heute
Hans-Helmut Decker-Voigts Kolumne erscheint alle zwei Wochen in der Uelzer Allgemeinen Zeitung. Hier an dieser Stelle wird es ein- oder zweimal im Monat eine neue Veröffentlichung geben.
In Trance mit tierischem Leibniz

Leibniz ist klug, schlau, raffiniert, kombinationsfähig und durchsetzungsfähig. Wie eben der hannoversche Leibniz. Jener hannoversche Universalgelehrte, mit dem sich Welfen, Hannoveraner, Niedersachsen schmücken und ihre Halb- und Viertelbildung mit ihm aufgewertet wissen dürfen.
Unser Leibniz ist kleiner als der große Leibniz, dafür noch nicht tot, sondern so lebendig und nah, dass er sich für meine Leser ablichten ließ. Und als Zeichen seines Vertrauens in die Wissenschaft. Denn Leibniz Lieblingsort ist inzwischen der Tisch, auf dem mein Laptop steht, darin mein gegenwärtiges Wissen gesammelt ist. Leibniz ist eine Krähe und ich habe ihn aus zwei Gründen Leibniz getauft. Einmal, weil er den Keks aus Hannover bevorzugt, der nach dem großen Leibniz benannt wurde. Zweitens weil er einem Raben immerhin ähnelt und ein Rabe ist ein Gelehrten-Tier. Eine kleinere Krähe also ein Teil-Gelehrtentier und mir angemessen. Denn heutzutage gibt es nur noch Teil-Gelehrte und keine Universalgelehrten mehr. Wer das Gegenteil von sich behauptet, ist überhaupt nicht gelehrt.
Leibniz muss sich seiner Berufung als Wappentier für heutige Teilgelehrte bewusst geworden sein, als ich am Laptop draußen arbeitete. Draußen am Ammersee vor dem Haus von Apadulas. Womit klar wird: Leibniz ist eine bayerische Krähe. Aktuell dürfte der hannoversche Leibniz aber nichts gegen Bayern und bayerische Krähen haben, denn das Kabinett in München hat soeben beschlossen, einen anderen hannoverschen Wissenschaftler, den Gauß, als Mathematiker auch kein Universal-, sondern Teil-Gelehrter, in ihren Ruhmestempel bei Regensburg an der Donau aufzunehmen. Ins Walhalla.


Ludwig I. baute und widmete den Walhalla-Tempel den größten Deutschen. Einschließlich seiner selbst. Und was umfliegt den Ruhmestempel? Richtig, Krähen. - Lauter Verwandte von unserem Leibniz, der es vorzieht mich schon bei Lebzeiten mit seinem Vertrauen zu ehren, indem er mich und mein Laptop und den Leibniz-Keks umfliegt. Nach der ersten Würdigung seines Interesses mit Leibniz-Keks - kam Leibniz näher. Und näher - bis er sich auf meinem Arbeitstisch niederließ. Zunächst allein mit dem Laptop, weil ich ihn ja ablichtete. Später mit mir zusammen. Morgens weckt Leibniz Christine und mich mit einem präzisen Kräh in höherer, sog. appellativer Frequenz. Dann begleitet er uns den ganzen Tag. Leibniz umfliegt keineswegs nur den, wessen Brot er pickt, sondern er hat Interesse an neuen Trance-Methoden. Die Hypnose-Sprache (im Tempo langsamen Herzschlags, in abgesenkter Tonhöhe und mit partiell sich auflösenden Artikulationen) ist ihm am liebsten. Dann legt er den Kopf erst mehrfach nach links, dann rechts, um in der Mitte den Schädel abzusenken und ein Auge zu schließen. Ein pechschwarzes Auge im pechschwarzen Federkleid sieht man nicht. Ich aber, weil ich 40 cm neben ihm forsche. Freiwilliges Augenschließen ist ein Indikator für die 1. Trancestufe, die Leibniz also zu 50 % erreicht, weil er immerhin ein Auge schließt, Mehr darf er als Teil-Gelehrten-Vogel nicht, weil er beobachten muss, was wo wie und wann und warum auf ihn wirkt. Das tun menschliche Wissenschaftler auch. Wir haben ihn heute verabschiedet mit einer ordentlichen Brotzeit: In Wasser getauchter Wecken, Weißwurscht-Schnitzelchen …und echtem Abschiedsschmerz.


(22. August 2006)

Den Autor erreichen Sie unter: Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de