Vom deutschen Bahnhof

     

Liebe Bahn AG.
Ihr wollt, dass wir uns alle auf Euren Bahn-Höfen wohl fühlen sollen? Ich studierte jetzt Eure Bahnhöfe-Ordnung. Einmal in Uelzen, als ich auf Ruth aus der Schweiz wartete. Einmal in Anklam (in Ostdeutschlands vergessener Provinz gelegen), wo ich Christine entgegen fieberte In Ost und West steht im Schaukasten, was wir alle lernen sollen, damit wir uns wohl fühlen und nicht gleich Strafe zahlen müssen oder gar Platzverbot kriegen.
Seitdem träume ich. Ich träume vom deutschen Bahnhof, auf dem all diese Ver-und Gebote durchgesetzt werden könnten: Zigarettenrauch und - kippen, Hundekacke, Bierdosenberge, Abfallpapier, Sex - Lyrik auf den Toilettenwänden, kunstarme Graffitis an den Bahnhofswänden, laute Musik aus Ghetto-Blustern…
Ich träume von einem vielfarbigen Poster, auf dem ein Bahn-Hof mit Bahn-Steig von einem klugen Kinderbuchillustrator oder einem Künstler der naiven Malerei buchstäblich ausgemalt wird, wie ein Bahnhof aussieht, auf dem:
Ein großer Hund sein großes Geschäft macht, eine komplette Schulklasse sich Feuer für die Zigaretten gibt, eine Gruppe Fußballfans Halbliter-Bierdosen um sich häuft, ein Gesangverein ein stilles Lied schmettert, Kinder über die Gleise einem Luftballon nachklettern, ein Erotik-Künstler eine Eva über die Plakate mit Abfahrt/ Ankunft malt…
Und darüber die Titelzeile: MACHEN SIE RUHIG WAS SIE WOLLEN…

 

Und dann könnte Ihr Satz folgen, den Sie tatsächlich über Ihr Plakat geschrieben haben: Wir möchten, dass sich alle Reisenden wohl fühlen…
Stattdessen zählen Sie in Kleingedrucktem zig Ver – und Gebote und zählen auf die zugehörigen Strafen. Plakate wie Ihre Bahn-Hof-Ordnung bewirkt  dasselbe wie das Schild über dem privaten Karpfenteich: „Angeln streng verboten!“ Das Ergebnis: Ein leerer Teich vor dem Abfischen. Als ein kluger Mensch dem Züchter empfahl, das Schild wegzulassen – da lebte es sich als Fisch länger in ihm. Bis zum festlichen Abfischen.
So aber raucht der Raucher, säuft der Trinker, grölt der Fan-Club, kackt der Köter, der nicht lesen kann – heimlich.
Ich träume von diesem Poster, seitdem ich an einem Supermarkt große Plakate las: „Klauen Sie ruhig bei uns! Wir zeigen Sie nicht an. Wir filmen Sie nur dabei…“.
Es gibt noch eine Möglichkeit, all das zu tun, was Ihre Hofordnung bei Strafe verbietet, liebe Bahn AG: In Ostvorpommern kurz vor Mitternacht auf einem Bahnhof auf seine Liebste zu warten. Der wartende und der anreisende Mensch können die Sekt-Pulle knallen lassen, ein Willkommenslied laut schmettern, den Zigarillorauch begeistert in die laue Herbstnachtluft steigen lassen. Sie könnten auch über Ghetto-Bluster oder Mozarts Kleine Nachtmusik spielen lassen und an die Wand sprayen: Willkommen, Liebste!
Es ist kein Schwein da, um zu kontrollieren, wer was macht.
Entweder das wäre ein deutscher Bahnhof nach meinem Geschmack. Oder der, der meinen Traum wahr macht und druckt.




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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
21. Oktober 2008