"Mehr Fleisch an die Töne" |
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Meine Kolumne heute ist keine, sondern eine Konzertkritik beziehungsweise Konzertnichtkritik.
Es ging mir in der 9. Abendmusik der Konzertreihe der St.-Georgs-Kirche in Hanstedt I so wie jenem Journalisten Thilo Koch: Der machte sich stets lustig über die Begeisterung
der Massen im Stadion. Endlich suchte er eines auf, um über Hysterie zu schreiben - und fand sich im Krankenhaus wieder: Man musste den auf seinem Stuhlplatz Stehenden
runterholen wegen Hyperventilation. Derart hatte er sich in Begeisterung geschrien. Ich schrie zwar beim Konzert nicht, aber ich vergaß die Kritik vor Begeisterung. Die Zuhörerschar in der Hanstedter Kirche besetzte erstmals die Empore - rappelvoll war es, als das Schlagzeugensemble „Drumherum" der Musikschule für Kreis und Stadt Uelzen von Pastor Knigge begrüßt wurde (der —wenn nicht Pastor —Moderator hätte werden sollen, nie vorher wurden die Eltern der jungen Schlagzeuger für ihr Ertragen der 10000 Übungsstunden zu Hause bedankt). Was die sechs blutjungen Musiker unter ihrem Leiter und passend salopp moderierenden Daniel Orthey dann an Schwingungen gebaren, war Großstadtspitze in unserer Provinz wie bisher die meisten der Hanstedter Konzerte (sonst mit Meister-Studierenden der Hamburger Hochschule für Musik und Theater Hamburg besetzt). Natürlich war es ein „Heimspiel" für Uelzener und besonders die Schüler David und Simon Gutfleisch aus Ebstorf, die Steve Reichs „Nagoya Marimbas" als Duo ebenso jungmeisterhaft spielten wie David Gutfleisch dann das Solostück von Matthias Kaul „Listen, this is for you". Beide Musiker sind gleichermaßen mit den Rhythmisierungen |
der Komponisten symbiotisch verbundene Solisten wie stützende Mitspieler bei den Soli der anderen Mitglieder des Ensembles: Markus Behn, Arne Meyer, Gunnar Kötke, Jonathan Szegedi, letzterer als „zentraler Spieler". Cages Stück „Dance Music for Elfrid Ide" (ein Stück für seine tanzende Freundin, geschrieben 1940) war zwar erst der zweite Titel von schließlich zwölf gespielten im Programm, provozierte aber bereits erstes Fußgetrappel und vereinzelte Rufe zum heftigen Tutti des Applaus. Trotz des Konzertitels („Treibende Grooves ... und jede Menge Spaß") gab es überraschend dramatische Tiefe, etwa bei „Amadeu Antonio Kiowa", einer Komposition von Matthias Kaul anlässlich des in Eberswalde von 40 Rechtsradikalen zu Tode gejagten Schwarzen aus Ghana. Der 11/8-Takt dieses Stückes, geboren aus der Phonetik der drei Vornamen des Opfers, ließ die Rhythmen und Vokalisen der Musiker wandern, hetzen, jagen - ein ebenso ergreifendes wie kurzes Requiem mit schlimmer Aktualität. Weiterer „Tiefpunkt" hinsichtlich trotz Jugend erreichter Tiefenschärfe: Die 2. Zugabe, das „Da pacem domine" von Aron Päard. Frieden gab es allerdings weder beim Christus noch seinen Heiligen im Altar von Hanstedt und am wenigsten für den Heiligen Mauritius, denn der kommt aus Afrika und hört nicht Rhythmus, sondern ist es. Ein jugendlicher Abend, der auch die mir sichtbaren Füße und Hände von 80-jährigen Mitbürgern durch das Vegetativum diktiert mitrhythmisieren ließ. Von diesen Tönen hätte Karajan (wie einmal in Luzern) gesagt: „Da ist Fleisch an den Tönen.” Hier war es sogar gutes Fleisch. |
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21. September 2010
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