„Es kann der Frömmste nicht…

     

…in Frieden leben, wenn es dem Nachbarn nicht gefällt“ (Friedrich v. Schiller in seinem Wilhelm Tell).
In der AZ vom 24.Juli gab es eine jener unzählbaren Meldungen, die zum Erfahrungsschatz unseres Schillers hätten zählen können: Da stand ein Nachbar vor der Tür des anderen - mit  einer Holzlatte. Nicht als nachbarschaftliche Reparaturhilfe, sondern um sie auf dem Kopf landen zu lassen...
Wir haben Glück gehabt, als wir vor genau 30 Jahren nach fünf Holdenstedter und dreizehn Hösseringer Jahren, allesamt so gut, weil lehrreich,  nach Allenbostel zogen – und zum dritten Mal sowie seit 30 Jahren die gegenteilige Erfahrung mit Nachbarn machten als Schiller und auch der Paulus im Neuen Testament sie erlitten. Denn: „Paulus schrieb an die Apostel: Geht überall hin, aber nicht nach Allenbostel!“ (klappt auch mit „Wettenbostel“ und fast tausend anderen „Bostels“).
Damals kamen die künftigen Nachbarn zum Richtfest und wir hatten für etliche Wochen mehr als ausreichend Salz und Brot sowie 30 Jahre Nachbarschaftserfahrung vor uns, die wir jetzt wieder feierten: Mit einigen von damals, mit Kindern und Enkeln Lebender und Verstorbener. Was eigentlich in einem Dorf gefeiert werden kann, wenn vorhanden: Gemeinsinn.

Wir haben zwar keinen Gasthof (Munstermann) mehr – Schicksal vieler Dörfer.
 

„Wenn alle Sozialarbeiter auch die Wirte hinter Thresen wären – dann gebe es kaum Kriminalität“ kursierte es in den sozialen Berufsfeldern der USA in den 70ern. Wir haben auch keinen verlässlichen Nachwuchs mehr für den jetzt einzigen Kulturträger: Feuerwehr. Wir haben auch keine Kirche im Dorf. Aber wir haben dafür alle bestehenden Meinungen im Dorf über Gott und die Welt. alle Meinungen in Sachen Politik zwischen links und rechts und noch weiter. Und: Wir haben mehr Überlebenschancen als jeder größere Fleck auf der Karte. Denn wenn Hacker den totalen Blackout schaffen (plötzlicher Zusammenbruch aller Elektrizitätsnetze einschl. Tankstellen, also keine Mobilität) überleben wir besser: Durch unsere Landwirte (Holz für Kamine, Kartoffeln für die Mägen, Schwienau-und Grundwasser). Wir haben einen Chirurgen im Dorf, zwei Tierärzte, drei Zahn-Prophylaxe-Fachfrauen, seit kurzem einen Rechtsanwalt für spezielle Fälle und für die restlichen religiös-christlichen Fälle einen Diakon (i.R.). Und nicht zu verachten: Ich weiß jetzt schon, welche Männer meinen Sarg tragen werden. „Lieber wäre uns Einäscherung“ sagen die. „Aber Ihr Gewicht machen wir noch“). Auch Roland Kaisers Schlagerwarnung und Schiller-Variante von 1983 betraf uns (noch) nicht: „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn ihm die schöne Nachbarin gefällt…“. 

Ich weiß, ich schwärme. Solange es noch geht.



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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
21. August 2018