Erinnerungen an heute
Hans-Helmut Decker-Voigts Kolumne erscheint alle zwei Wochen in der Uelzer Allgemeinen Zeitung. Hier an dieser Stelle wird es ein- oder zweimal im Monat eine neue Veröffentlichung geben.
Leichen-Tourismus

Manche von uns tragen die Erinnerungen an liebe Verstorbene im Herzen. Manchen jedoch reicht das Herz nicht. Sie wollen auch die irdischen Überreste der lieben Verstorbenen möglichst ganz nah um sich haben. Beispiel Cousine Thea. Sie ließ ihren Edward auf dessen Wunsch hin verbrennen und in eine besonders schöne Urne fassen. Diese Urne steht nun bei Thea auf dem Kaminsims.
Ich muß erklärend hinzufügen, dass dies bei uns hierzulande nicht einfach so möglich ist, wie bei Thea. In Kalifornien nämlich. Wohin Thea mit ihrem Eduard (so hieß er früher als er noch Österreicher war) vor 45 Jahren ausgewandert waren. Eigentlich hatte sich Eduard Urnenbeisetzung deshalb gewünscht, damit seine Thea ihn in der Urne nach Österreich zurückbringen kann, um dort in seinem Dorf beerdigt zu werden. Aber Thea konnte sich schlecht von ihm trennen. Und deshalb ruht Eduard nun auf dem Kaminsims. Dort wird er nun viel mehr beachtet als auf einem Friedhof in Österreich oder Kalifornien. Denn Thea, und wer von ihren Kindern und Enkeln und Gästen Eduard schätzte, kann sich in stumme oder laute Zwiesprache mit dem Vater, dem Opa oder Freund begeben. Hello, Edward…nice to see you...
Mir gelingt der Blick auf Edward, wie er da auf dem Kaminsims ruht, nicht so unbefangen wie den amerikanisierten Verwandten. Thea begrüßt Edward morgens mit ihrem fröhlichen "Hy" und verabschiedet sich zur Nacht mit "Till then…".Und auch Theas neuer Lebensgefährte - Edward verstarb leider noch vor seinem Ruhestand, also jung - ist gut erzogen und begrüßt und

verabschiedet seinen Vorgänger täglich. Immerhin trägt Thea ihren Edward nicht ständig bei sich. Wie eine Freundin von ihr den ihren. Denn inzwischen gibt es Spezialfirmen in USA, die die Asche mit einem inzwischen weltweit patentierten Verfahren zu einem Ring presst,. Den tragen Mann oder Frau dort, wo er hingehört: Am Ringfinger. Dort schließen sich sozusagen die Kreise des Anfangs einer Lebensgemeinschaft, symbolisiert durch den Ehe - oder Partnerschaftsring, neuerdings mit diesem neuartigen Ring, gefertigt aus der Asche des/der Liebsten. Diese Erinnerungsringe werden gepresst, unter sehr hohem Druck und noch höhererer Temperatur und brauchen nur wenige zusätzliche beigemischte Chemie. Man trägt den Verstorbenen quasi in substrathafter Form und kann sich sogar die Farbe aussuchen. Die, in deren Licht man den Lieben immer sah. Oder gern gesehen hätte. Zurückhaltender. Oder strahlender.
Auch bei uns hat der Leichen-Tourismus via Urne nach der Wiedervereinigung hohe Steigerungsraten. Da gibt es Westler, die bestimmte Lieben im Osten exhumieren und im Westen beerdigen lassen. Weil es das Testament des Verstorbenen erbat. Für den unwahrscheinlichen Fall der Wiedervereinigung. Oder umgekehrt: Es gibt auch irdische Überreste von Westdeutschen, die sich wünschten, am Herkunftsort begraben zu werden. Im unwahrscheinlichen Fall der Wiedervereinigung. Sie ist nun möglich, diese Unwahrscheinlichkeit. Obwohl die Sache mit der Urne oder dem Ring viel weniger aufwendig ist. Und die Vereinigung von Lebenden wie Toten begünstigt.


(21. März 2006)

Den Autor erreichen Sie unter: Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de