Totentage

     
Tage, die den Toten gewidmet sind: Allerseelen, Allerheiligen, Ewigkeitssonntag. Die Todesanzeigen auf der vorletzten Seite füllen sich langsam aber sicher mit neuen Toten und der alten wird gedacht, indem wir ihnen Kränze, Gestecke, Kerzen und manchmal auch nur Gedanken widmen. Manche davon sind herzlicher als all das Grünzeug.
Mutti wollte das alles nicht. Weder wollte sie Testament machen, noch zum Arzt. "Ins Altwerden soll man nicht reinfunken," war ihre schnoddrige Antwort. Mutti hatte Ahnung. Sie hatte als Kind und Jugendliche ihren Vater, einen Veterinärmediziner, auf den Fahrten zu seinen tierischen Patienten begleitet und danach immerhin zwei Semester Medizin studiert. Medizin für Menschen. Bevor dann dieser Hauptmann kurz auf Heimaturlaub kam und mit ihm die studienzerstörende lebenslange Liebe…
"Laßt mich in Ruhe mit der ganzen Sterbeindustrie - ich will zur See." Damit meinte sie ihre Asche, die das schaffen sollte, was die Asche von Vati nicht geschafft hatte: Der wollte auch zur See, d.h. seine Asche in die Winde und die Wellen verstreut wissen. Aber die Kinder streikten. Und setzten die Urne auf ein anständiges Grab, an dem sich Vatis besser gedenken ließ als an einem stürmischen November-Strand ohne klaren Horizont, also das Gegenteil von ihm mit seinen Ecken, Kanten, klaren Positionen. Eine Zeile ließ der Grabstein Vatis frei.
Mutti liebte keine Totengedenktage. Sie liebte und lebte Leben, kleidete sich ab 75 in einen der eleganten Gehröcke, was sowohl zu ihrem kunstvoll gedrechselten Damenstock mit Silbergriff passte als auch zu ihrer Vorliebe für preußische Disziplin.
  Mutti trug roten Nagellack, den Kopf immer erhoben und ihre manchmal durchaus widerständige Meinung auf der Zunge. Sie widerstand als Witwe allen Kuppeleien mit standesgemäßen Herren, "doch nur zum gemeinsamen Verreisen, Mutti", widerstand Volkshochschulkursen zum Internet für den 4. Lebensabschnitt und rezitierte familienöffentlich, was sie in ihrer Schulzeit gelernt hatte: Die schönsten Balladen, Gedichte der Weimarer Klassik und Operettentexte, deren Erotik es mehr in sich hatte als mancher Playboy zwischen ausklappbaren Seiten.
Ihr Leben spielte sich weitgehend in ihren blauen Ohrensesseln ab. Sie erzählte daraus Kindern und Enkeln ihr Leben. Und sie ließ sich deren Leben erzählen. Gab es bei den Enkeln Probleme mit deren Müttern und Vätern - schließlich Mutti`s Kindern und Schwiegerkindern - dann wurden die dort erörtert, meist geklärt. Unter absoluter Schweigepflicht. Auch die dann folgenden Probleme mit ersten Freundinnen und Freunden, möglichen und ganz unmöglichen VerehrerInnen, nahm Mutti und der Samt sanft auf und steckten ihn in die Seelen- und Sesselritzen. Auf den blauen Sesseln saßen auch einsame Schwulenpaare und feierten mit ihr Weihnachten - zusammen mit Muttis Kindern, die durch Muttis Liberalität auch eigene lernten. Auch Mutti`s Asche wird jetzt nicht zerstreut, was sie - wegen der freien Zeile auf Vatis Grabstein auch nicht mehr einforderte, sondern sich zu ausnahmsweise Untypischem entschloß: Zur Unentschiedenheit. Totengedenken - eigentlich meint es sein Gegenteil: Gedenken an ein gewesenes sehr lebendiges Leben. Das mit seinem Sterben Geschichte wird.



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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
20. November 2007