Anfall von Romantik

     
Anfälle überfallen. Mich überfällt ein Anfall von Heimweh nach den Dörfern unserer Ostheide auf dem Balkon des Motels in Kirchheim, Strecke Hamburg-Basel. Mitternacht, eine grüne Wiese mit mondweiß beschienenen Blumen, ein Bier aus der Minibar, Zauber einer Frühlingsnacht für einen einsamen Reisenden?
Links und rechts von einer Autobahn vergewaltigt das Lärmband hochaufgedrehter Motoren das menschliche Ohr und lässt idyllische Berghänge bei offenem Fenster zur Folter werden. 3 km Dauerkrach links, 3 km rechts von einer BAB. Die meistbefahrene Nord-Süd-Strecke, ist für das Ohr nichts anderes mehr als die Aber-Millionen Drehzahlen, die pro Minute vorbeijaulen, keuchen, ächzen, donnern. .
Bei uns zuhause ist noch zu hören, was hier niemals mehr hörbar sein wird: Frühling. Zwar haben die Nachbarn Schulte, Hahn, Bokelmann und Co., ihre Rösslein nicht mehr im März angespannt, sondern zusammen auch Tausende von PS in ihren Traktoren. Aber deren donnerndes Gegrolle entfernt sich verlässlich-freundlich um den frischen Pfingstbaum rollend Richtung Felder. Und macht Platz den Stimmbildungsversuchen der bei Gärtner Schulz frisch geborenen Lämmer. Selbst die nachbarschaftlichen Rasenmäher spielen sich nach Feierabend vergleichsweise sensibel ein in die Kunst der Fuge des Frühlings - ja, Du bists. Dich hab ich vernommen.
Nach den nachbarschaftlichen Rasenmähern kommen sie zum Zuge: Die Solisten der Froschchöre von den Teichen und Pfützen in den Gärten, unterbrochen von dem, was Kinder so in den Frühling hinausrufen, schreien, mit und ohne frühlingshaft frisch aufgeschlagene Knie. Frühling, ja du bists! Dich hab ich vernommen.
  Statt Telephon im dunklen Winterhalbjahr wird wieder über die Straße gerufen. Kann ich deine Motorsäge ham? Kommste zum Grillen rüber?
In den Pausen und bei erstem Licht ist ein hartnäckiger Klang zu hören, ein Ostinato, den nur Frühling bietet: Der Ostheide-Landesverband vereinigter Piepmätze: Die Hysterie der Kibitze, die schüchternen Melodieteile der Amseln, das Flattergeräusch der Tauben, das Käuzchen von der Schule und Pfingstsamstag als Exot ein Maikäfer. Ein echter, der seine Einsamkeit an der Stehlampe als Klagemauer bebrummte.
Und alles ist hinter allem her. Männchen hinter Weibchen, große Motoren hinter kleinen Motoren, tiefe hinter hohen Stimmen. Botenstoffe konkurrieren mit Allergien. Frühling, ja Du bists…
Vom Bruchwald her hustet der Bock sein Reh herbei und Menschen können gar ein Liebesflüstern am Ohr hören, wenn sie nicht allein sind. Hier auf dem Motel-Balkon werden sie nie mehr Liebe hören. Oder nur noch mit Ohropax. .
Auf unseren Dörfern könnte es auch noch das geben, was der alte liebe Eduard (Mörike) in einem ewig jungen Frühlings-Gedicht schrieb:
"Horch - von fern ein leiser Flötenton - Frühling, ja du bists! Dich hab ich vernommen. (Ich müsste nur meine Flöte holen, denn Brüggemann hat zwar Schafe, aber keine Blockflöte.)
Ich weiß, dies ist ein Anfall von Romantik. Und demnächst hadere ich auch wieder mit Gott,, weil er Mückenstiche und Motorsägenblätter in seine Schöpfung aufnahm.



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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
20. Mai 2008