Vom Lehrer Pollinger

     

Gleich gibt’s acht-Uhr-Nachrichten. Gute von der heimischen Wirtschaft und Börse, schlechte vom Wetter, deprimierende aus Berlin und katasrophale, ganz weit weg. Davor der Werbeblock mit all dem, was das Herz zu Weihnachten ersehnt. Unvorstellbar schönes Süßes, Duftendes, Essbares, Anziehbares, Ausziehbares, Trinkbares – und alles preiswert und sofort käuflich.
Mir, einem Opfer unseres Konsums, fällt Herr Pollinger ein, eine Lieblingsgeschichte meiner Mutter (geschrieben von Heinz Steguweit), die sie 1941 den Kindern in der Schule vorlas, deren Lehrer an den Fronten kämpften. Pollinger – ein Lehrer, zurückhaltend und freundlich: Er strich nur halbe Fehler an und schrieb „Genügend“ darunter. Schlechteres gab er nicht. „In diesen Zeiten nicht“. Bei Regenwetter nahm er Schüler unter seinen Schirm. Seine Sanftheit hatte fünf Gründe in seinem Zuhause: Fünf Kinder und Pollinger war Witwer. Deshalb noch freigestellt vom Wehrdienst.
Es war eine Traditionsschule und Tradition war, dem Klassenlehrer einen Printenmann zu schenken, einen Lebkuchenmann in Lebensgröße, vom Bäcker festgebunden auf einem Brett. Die Klasse legte zusammen. Die fünfzig Schüler von Pollingers Klasse legten besonders gerne zusammen. Fünf Kinder zuhause.

Dann kam die - doppelte - Bescherung in der
 

letzten Stunde vor Weihnachten. Pollinger freute sich. Er behielt die Fassung auch, als der Pedell der Schule reinkam und eine Eilnachricht vom Schulrat unterschreiben ließ: Die Lehrer dürfen ab sofort keinerlei Geschenke annehmen. Besonders Essbares nicht. Es war Krieg.
Die Klasse scharrte mit den Füssen, sie rumorte, manche wollten rebellieren, aber Pollinger mahnte. Zum Gehorsam. Es würde schließlich gehungert da draußen und dann Lebkuchen für Beamte, hier im Schutz der Heimat? Sie sollten den Printenmann verteilen in fünfzig Stücke. Für Zuhause oder Nachbarn, die noch weniger hatten.
Die Klasse gehorchte. Dann rannten sie nach dem Unterricht los. Alle fünfzig. Zur Wohnung vom Pollinger, 5. Stock, verwohnter Altbau. Die Wartefrau machte auf und ließ einige rein, die die fünfzig Stücke rasend schnell auf dem leeren Bäcker-Brett erneut zusammensteckten. Zum Printenmann. Mundfertig.
Am ersten Schultag im eiskalten Januar 1942 las Pollinger seiner Klasse Eichendorffs Gedicht vom Frühling vor: „Bist nicht verarmt, bist nicht allein..“.
Ich dachte an Pollinger, an Gedichte, die leicht kitschig wirken, an meine Mutter und hatte den Werbeblock vor den Nachrichten verpasst. Und begriff, dass ich nichts verpasst hatte. Frohes Christfest wünscht seinen Lesern und Gutes bis zum nächsten Jahr: Der Kolumnist.




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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
19. Dezember 2017