Babylon

     
Immer noch in Japan: Mein Kollege Jos de Baker aus Belgien ist ein Gourmet und bestellte „Kobe-Rindfleisch“. Jos strahlte schon auf dem Flughafen, als er eine Leuchtreklame dafür las. Das Besondere: Die Rinder um Kobe herum werden nämlich vor ihrer Schlachtung professionell und lange massiert, was ihr Fleisch leicht, locker macht - und es entspannt gestorben ist, das Fleisch.

Wir hatten einen Gutschein für ein besonders gutes Restaurant, waren deshalb sofort Männer von Welt und bestellten in englischer Sprache. Jos bestellte also sein physiotherapeutisch in das Sterben begleitete Kobe-Fleisch, ich eine Peking-Ente.

Was dann serviert wurde, sah anders aus als das Erwartete. Wir nickten dennoch dankbar und souverän, weil die Bedienung entzückend war, ein Hauch von Kindfrau. Dann rätselten wir nach der Entfernung unserer Fee, was auf meinem Teller dieser Hauch von gazeähnlichem Stoff war, umrandet von Winzig-Teilen, die sowohl die Enden von Tintenfisch-Tentakeln sein konnten als auch – addiert und nur vielleicht – kleine Einzelteile von dem Inneren einer Ente. Und was auf Jos de Bakers Teller diese shrimpsähnlichen Tütchen in rosa-gelber Farbe sein könnten – ohne jede Möglichkeit, jenes sagenhafte kurz vor seinem Tod massierte Fleisch darin entdecken zu können. Jetzt erst stellten wir auch den erstaunlich niedrigen Preis fest. Waren das nur die Vorspeisen? Oder hatten wir jeweils das Bestellte des Anderen?

  Wir aßen unsere kleinen unbekannten Edelbissen betont genußreich auf und waren hungriger als vorher. Dann bestellten wir nochmal. Ich: „you understand – a duck?“ Ich ließ schon Peking weg und ahmte versuchsweise eine Ente nach, die aber auch phonetische Teile eines Allenbosteler Gockels auswies. Jos: „Meat of a cow, Kobe-cow, special Kobe-meat – yes?” Die Fee schwebte lächelnd nickend von dannen, uns in allen Hoffnungen zurücklassend, weil wir deutlich hohe Preise neben dem neu Bestellten gelesen hatten. Jos war nur sauer, weil dieser Hauch von Frau auf meinen Tiernachahmungsversuch mit unterdrücktem Gnickern (vorgehaltene Hand) reagiert, bei ihm nur ernst gelächelt hatte.

Die Fee kehrte mit neuen Winzigkeiten zurück, so unbekannt wie die bisherigen. Wir räumten nochmal lächelnd und gentlemanlike die Teller („Gegessen wird, was auf den Tisch kommt!“) zahlten den mehrfachen Preis und flohen. Draußen fluchten wir auf den Fluch der Sprachverwirrung, den unsere Vorfahren mit ihrem blöden Bau des Turmes von Babylon auf uns Nachfahren herabbeschworen bzw. auf die Abwesenheit ausreichenden Hl. Geistes. Dann wechselten wir in das Restaurant gegenüber: (ohne Gutscheingültigkeit): Lauter, einfache Holzbänke, aber Speisekarten – die schönsten Speisekarten der Welt! Mit Vierfarb-Abbildungen, auf die wir nur zu tippen brauchten. Wieder keine Ente oder Kobe-Fleisch – aber wir wurden satt. Ohne ein Wort benutzen zu müssen. Ich werde nie mehr lästern über Analphabetismus und des Deutschen nicht mächtige Touristen. Wir wären ohne sie verhungert.




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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
19. Oktober 2010