Vom Klang der Stille im Mai

     

Ich besuchte sie im schönen Seniorenheim am Rande Hermannsburgs: Tante Elli. Tante Elli ist auch Pfarrerswitwe ist und Forschungsobjekt mancher Studenten der Psychologie, die in Hermannsburg Statistikphänomene lernen. Denn in der Gemeinde gibt es die unvorstellbare Häufung von 62 Pfarrerswitwen..
Auf Tante Elli`s Balkon schauten wir in das mitdämmernde Maigrün ich machte Tante Elli darauf aufmerksam, wie selten und wundersam doch der Klang der Stille hier in Hermannsburg sei. Im Gegensatz zu Allenbostel und anderen lebendigen Dörfern, in denen die Rasenmäher und Motorsägen zum Sonnenuntergang Fest – und Feiertage einleiteten.
Dann aber hörte ich mehr als den Klang der Stille: Ich hörte Piepmätze und von Sekunde zu Sekunde, in der das Hören zum Zuhören und dieses zum Lauschen wird, traute ich meinem Verstand nicht mehr, aber wohl den Ohren: Amsel, Drossel, Fink und sogar der verfrühte Star – sie waren manchmal nacheinander, dann wieder im Duett, Terzett, Quartett und mehr zu hören. Ich kannte sie gut, denn Tante Gertrud in Hösseringen hatte uns trainiert. Nach ca. zehn Sekunden klangen in Tante Elli`s Balkonnähe Meise, dann ein Specht, das Gurren der Taube…
Ich dachte an die Statistik-Phänomene in Hermannsburg und nahm mir vor, die Kollegen in Hamburg auf Hermannsburg aufmerksam zu machen, weil weit über Tante Elli und die 62 Pfarrerswitwen hinaus statistisch und ornithologisch

Hermannsburg eine Sensation war. So wie Allenbostel mit der Anzahl seiner Bürger (ca. 140) und seiner Pferde
 

(weit mehr als Menschen, mindestens 1,6 Pferd, wenn nicht an die 1,9 Pferd pro Mensch). Und das ganzjährig, ohne 1. Mai Turnier. Ich dachte auch daran, Studenten der Musikhochschule nach Hermannsburg zu schicken. Mit gutem Mikro und Aufnahmegerät. Denn was ich noch nie gehört und daher nicht gewusst hatte: Diese Folge von Einzelgesängen eines Vogels, dann einmündend in Duette, Terzette usw. – die Folge wiederholte sich jetzt zum zweiten Mal. Eine unglaubliche Organisation dieser Improvisationsmusik, die einem Kompositonsprinzip zu folgen schien wie die Delphine und Wale! Ich sagte ergriffen meine Beobachtung zu Tante Elli.
Tante Elli lachte.
„Mein Lieber,“ meinte sie mahnend und tippte mit der Linken an ihr linkes Ohr unter dem weißen gewellten Haar, die rechte wackelte ein bisschen in der Luft mit der Teetasse und verschüttete dabei ein bisschen grünen Tee, “mein Lieber – deine Ohren! Du warst doch mal Musiker! Hör mal: Die Piepmätze hören nicht mal auf, wenn du zu mir redest und du musst ja sehr kräftig reden, damit ich dich höre.“

Tatsächlich – ich rief jetzt laut in das Grün hinein und das Konzert entwickelte sich just wieder vom Terzett zum Quartett in Richtung Tutti. Genial!
„Das ist Gertrud, mein Junge,“ klärte mich Tante Elli auf. „Gertrud sitzt vier Balkons weiter und ist Vogelstimmenliebhaberin. Sie hört sich in diesen Tagen mit ihrer Trainings-CD wieder ein. Jedes Jahr im April/Mai.“
Ich beeilte mich, den grünen Tee aufzuwischen.




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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
19. Mai 2009