Von Mutter und Kind…

     

Süchtig kann jeder werden und nahezu nach allem, mitnichten nach nur Kaffee, Schnaps, Tabak, Canabis, na, Sie wissen schon.
Es gibt auch Weihnachtssüchtige . Echte Süchtige. Nicht nur die Oma vom Kommissar Meyer aus „Um Himmels Willen“, die das ganze Jahr über vor einem Weihnachtsbaum mit Lichtern und Lametta feiert und Terror macht, wenn keiner mitsingt. „Holder Knabe im lockigen Haar“. Es gibt wirklich „Christkind – Süchtige“.
Ich lernte sie in der Sozialpsychiatrie der Medizinischen Hochschule kennen: Anfang Dreißig, keine Model-Figur, sondern mütterlicher Körper wie ein großes Cello oder kleiner Kontrabaß, üppige schwarze Korkenlocken, die ein rundes Gesicht umrahmen. Ihr Gesicht unterstrich die Mütterlichkeit –  wenn sie medikamentös eingestellt war. Oder wenn sie ihrem Innenleben ausgeliefert war. Sonst nicht. Eingeliefert wurde sie, nachdem sie - wo immer sie saß - in ihren Armen ein Kind wiegte. Dazu sang sie italienische Siziliani  -Wiegenlieder - oder im Singsang italienische Koseworte…schöne, liebevolle. Herkunftsort Neapel.

In unseren Augen aber gab es kein Kind. Das Kind in ihren wiegenden Armen lebte nur in ihrer inneren Vorstellung, ihrem Wahn. Sie hatte ein eigenes Kind vor dem errechneten Entbindungsdatum – ich glaube zum Nikolaustag – verloren.
 

Ihre Annäherung an eine Psychose zeigte sie, indem sie beim Anblick der Heerscharen von Christkindern in Schaufenstern und Zeitschriften, in Bilderrahmen an Wänden und bei Bildern der Mutter Maria mit Kind (sie war als Italienerin tiefgläubige Katholikin) eben in dieses Schaukeln einer Mutter verfiel. Und ihr Singen und Summen beginnen ließ…
Dann war ihr Gesicht entspannt, weggetreten, wie in jeder tiefen Trance, in der wir alle mal sind und Bilder sehen, die aus unserem Inneren wirken.
Der Ltd. Psychotherapeut war damals anfangs nicht ganz sicher, worunter die weitere Entwicklung dieser Frauenpersönlichkeit fällt: Unter „Heilungserfolg“  - oder nicht. Jedenfalls wurde sie nach der entsprechenden stationären Behandlung gerühmt erst in der Nachbarschaft, dann ihrer Straße, ihrem Stadtteil, in dem sie in Hannover lebte. Denn ohne große Unterbrechung suchte sie weiterhin den Kontakt zu Säuglingen und Kleinstkindern, wenn sie sie auf der Straße oder in Geschäften sah – und wurde nach anfänglicher Skepsis und erstem Mißtrauen von Mütter und Vätern eine der beliebtesten Tagesmütter ihres Stadtteils. Noch später wurde sie Kinderkrankenschwester, Schwerpunkt Neonatologie, (Frühgeborene). Eine Berufung. Heute in einer Woche haben wir auch wieder ein Kind im Zentrum…




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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
17. Dezember 2013