Selbstkontrolle

     

Um 1955 zog der erste Elektrorasierer in unser Haus mit großem Getöse ein: Großvaters  (sieben) Kinder hatten zusammengelegt und die Schachtel mit diesem grauweißblauen rätselhaften Gerät als Hauptgeschenk auf den Gabentisch gelegt. Die erste Rasur fand sofort nach der Bescherung statt, obwohl der Beschenkte noch sorgfältig nassrasiert war. Die Hausgemeinschaft drängte sich im Badezimmer um Großvater und das leise an seiner Wange surrende Wunder wurde akustisch vom kollektiven Bewundern zugedeckt. Die Schenkenden inclusive Großmutter durften dieses zarte Zittern alle mal auf der eigenen Haut fühlen. Ich auch.
Jetzt lese ich aktuell vom Aktuellsten auf dem elektronischen Kosmetikmarkt: Der vernetzten Haarbürste. Die eingebauten Sensoren sollen mit Abstand  besser sein als meine Hand, wenn sie meine primitive Haarbürste durch die Mähne führt: Ein Drucksensor misst die Handkraft, mit der ich das Haar unterfordere oder überfordere. Ein Gyroskop misst die Zahl meiner Bürstenstriche, die auch unter- oder überfordern können. Mehrere Leitfähigkeitssensoren zeigen die Analyse meines Haares an, Unterernährung, Überfettung, Spliss und so was.

Ab Mitte 2017 ist das Wunder dann für Irdische zu haben und bedeutet eine weitere bevorstehende gesamtgesellschaftliche Änderung: Im Vergleich zu Großvaters Elektrorasierer, der
 

besser war als seine Hand bzw. der Nassrasierer (Großmutter kontrollierte das hinterher beim Küssen), wächst die Möglichkeit unserer Selbstkontrolle, denn Haar gehört natürlich zum Selbst. Längst werden unsere Zähne am besten mit digitalen Zahnbürsten kontrolliert, die längst schon Daten jede Menge anzeigen über Ist - und Sollzustand unserer ersten oder zweiten oder dritten Generation von Beißerchen.
Natürlich werden wir schon längst digital gemessen, wenn es um unser Fell geht, um Knochen, um Atmung, um Hirnkästen usw. Aber da wird mit uns gemacht. Jetzt machen wir immer mehr selbst und erweitern so die Selbstkontrolle.
Oder geben wir sie gerade ab? Unser Handy sammelt doch schon längst alle Daten und schlägt Alarm bei ungesundem Herzrhythmus, überspanntem Tonus der Haut, bei sich nähernder Hyperventilation usw.

„Selbstkontrolle ist das Wichtigste“ – predigte schon mein Großvater und bezog sich auf die antiken Philosophen ebenso wie auf Professor Freud. Naja – er hatte keine Ahnung. Ihn, den Naiven, freute noch die weiß-blaue Farbe, weil sie die Stadtfarben von Celle, Uelzen, Lüneburg aufwies. Die Umkehrung – das Blauweiß der Bayern – konnte er als Welfenfreund nie ab und „Rasieren lohnt sich bei denen gar nicht erst anzufangen. Die tragen noch Fell, keine Haut.“



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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
17. Januar 2017