Stulpe und Co.

     
Da gab es einen künstlerisch Schaffenden wie Wolfgang Stulpe, der wegen sexueller Verfehlungen mit ihm Anvertrauten vor zehn Jahren sein Leben durch Suizid beendete. Und da gibt es so etwas wie ein hinterlassenes Lebenswerk, seine Bildersammlung, die jetzt im Rathaus ausgestellt ist und die Diskussion neu und diesmal (endlich) öffentlicher als damals wieder belebt: Wieweit müssen bei Menschen, die Künstler sind oder mindestens als künstlerische Menschen im Kunst-„Gewerbe“ Wichtiges gestalten (Ausstellungsleiter und Bildersammler wie Wolfgang Stulpe gehören dazu) moralisch ebenso vorbildlich wie in ihrem Schaffen exzellent und nachdrücklich sein, um „trotzdem“ noch ausgestellt werden zu können oder als Autor weiter gelesen, als Musiker weiter gehört, als Schauspieler weiter gesehen zu werden?

Wenn eine Gesellschaft da nicht trennen würde – zwischen Person bzw. deren moralischer Integrität und ihrem Werk – dann dürften wir keinen Hermann Hesse lieben, der in seinem Alter einmal moralisch strauchelte und entsprechend mit der Justiz zu tun hatte. Oder X bestaunen, einen der weltbesten Pianisten der Gegenwart, der an einer der weltbesten Musikhochschulen lehrt und auch… Oder seinen Pop-Kollegen Michael Jackson posthum immer noch hören, der auch… Oder Y danken, einem der bedeutendsten Künstler, der die Postmoderne zentral mitgestaltete und Basissteine für die DOCUMENTA legte, der auch…

Das Phänomen besonderer Schaffenskraft in Verbindung mit persönlichen Schwächen treffen wir in allen Zeiten an, aus denen uns Biographen und Biographien berichten. Was für die Künste gilt, gilt – ach ja, du lieber Gott – auch für manche Spitzenwissenschaftler, die unsere Sicht auf Lebenmüssen zwischen den Extremen in uns neuformten.

 

Gilt auch für Ingmar Bergmanns Erfahrungen im Umfeld seiner (Pastoren-) Familie, gilt und gilt weiter, je größer die Ausnahmeerscheinung desto…aber lassen wir das Goethe sagen: Alles geben die Götter ihren Lieblingen ganz, die Freuden, die Unendlichen, die Leiden, die Unendlichen. Ganz. (Und Leiden meint immer auch Schuldgefühle angesichts eigener Taten, die eben bis zu Schandtaten reichen können).

Eine schwierigere, schmerzhafte, manchmal gar traumatisierte Sicht hat und muß das jeweilige soziale Umfeld solcher Menschen auf einen solchen Menschen haben. Weiter lebende Opfer, deren Angehörige, Freunde, Kollegen können nicht die große Distanz zwischen Mensch und Werk leben, wie alle anderen Entfernten, die nur das Werk kennen. Die Worte, die in dieser Zeitung bei der Erstthematisierung dieses schweren Themas am Samstag, 6.10., zitiert wurden, vom Bürgermeister, von Künstler-Kollegen Stulpes, von Verbandsvorständen – sind zu bedanken, weil sie diese Trennung von Werk und Person mittragen, ohne die gravierende Schwäche einer Person zu verheimlichen. Ein soziales Umfeld wie wir es in Bezug auf Stulpe sind, kann nur eine kleine Distanz zwischen Person und Werk leben. Und Gründe dafür müssen erinnern und erinnert werden. Richtigerweise nicht durch Ehrung(sschilder), deren Abnahme ja das Werk nicht kleiner macht. In diesem Fall eine Sammlung. Schauen wir uns die Bilder an und seien wir dankbar, wenn das eigene Leben einen (noch) nicht in eines der seelischen Extreme stürzt, die bekanntlich in jedem von uns sind. Sagt nicht erst Sigmund Freud, sondern auch schon die ältesten Bücher des Testaments. Nur wer diese Extreme in sich nicht kennt, darf Steine schmeißen. Weil er gar nicht weiß, daß er im Glashaus sitzt.




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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
16. Oktober 2012