Tante Ulrike  ist schon sehr besonders. Kein Wunder, dass ihre Tochter Josephine, meine  Nichte (aber nur 2. Grades) dies auch ist. Während Tante Ulrike auf allen  Familientagen hervorsticht durch ihre zu allem Senf dazugebende krähende Stimme  („das darf doch nicht wahr sein!“), hört die Öffentlichkeit bei Josephine  keinen Satz so oft wie „Ich war geschockt“ oder „ich bin völlig geschockt“. 
      Josephine  steht am Morgen nach einem eigentlich erträglichen Abend mit uns und unserer  Tochter, ihrer Cousine (aber nur 2. Grades) vor unserer noch nicht wieder ganz  aufgeräumten Küche und ich höre sie am Telephon ihrer Mutter klagen, dass sie  bei diesem Chaos bei uns „schon schwer geschockt“ ist. Ich finde meine Tochter  manchmal auch etwas unordentlich, aber bei solchem Anwurf gehe ich in die  Verteidigung.  
Josephines gibt‘s immer mehr. Am Hammersteinplatz  bleibt ein (noch) älterer Herr als ich abrupt stehen und ruft laut und entsetzt,  dass er geschockt sei über unsereStädtische Straßenreinigung. Vor ihm liegt ein  kleiner brauner Hundehaufen auf dem Pflaster. Und als sich die Nachricht  verbreitete, dass mein Kollege sich jetzt scheiden lasse wegen einer Jüngeren    | 
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    (das macht er jetzt schon zum dritten Mal), höre ich im Sekretariat das  Stöhnen: „Das schockt  mich aber jetzt!“Was machen die Josephines (Josephs gibt‘s auch), diese armen  Kranken - denn für die Dauer eines Schocks ist der Mensch Patient -beim  Ausbleiben ihrer Zeitung wegen Blitzeis, beim Stromausfall im letzten Sturm,  dessentwegen ihr Intercity eine Stunde stehenblieb, beim Überfall ihrer  Tankstelle, an der sie gerade gestern noch tankten?  
      Was werden  sie sagen, wenn sie eine wirklich bedrohliche Diagnose über ihren psychischen  Zustand erführen, der nicht mehr fern wäre, wenn ein Schockzustandden nächsten  ablöst? Denn Schock bedeutet u.a. schwere Kreislaufstörung mit  Sauerstoffunterversorgung und einem Zustandsbild, das lebensbedrohlich sein  kann. 
      Ich kenne  Tante Ulrike lange genug, um zu wissen, wie Josephine reagiert, wie die Josephines  dieser Welt reagieren: Dann haben sie keine Worte mehr. 
    Am 1. März  hat Josephine Geburtstag und wird schreien „Ich bin geschockt“. Denn sie wird dann  feststellen, dass es erst der 29. Februar ist. Schaltjahr. Aber bei genauen  Terminen schaltete Josephine  immer schon  ab. Wie ihre Mutter Tante Ulrike…  |