Vom Umgang mit Drachen

     

Da sitzen sie kurz vor der Vorlesung, leise bis stumm. Alles klebt mit Auge oder Auge und Ohr am Smartphone und evtl. Ohrflöhen, Kopfhörern. Alles? Fast alles. Weiter hinten gibt es Unruhe. Zwei der Köpfe rücken plötzlich räumlich eng zusammen. Ein dritter Kopf folgt. Dann leises Gekicher, crescendierend zum Lachen, Erschrecken über das Lachen, weil der Dozent da ist, die Vorlesung begonnen hat? Die Vorlesung? Nein. Der Dozent hatte zum zweiten Mal nachgefragt, was da hinten so amüsiere. Er hatte freundlich gefragt, neugierig. 
Die Köpfe dahinten hatten nicht über Youtube-Filmchen zusammengesteckt, nicht beim Googeln des unverständlichen Keywords der Vorlesung eröffnet.
Was da hinten den Sieg davontrug über Smartphones und Tablets der Hörerschaft, den Sieg über die erste Folie der „ppt“, PowerPoint – Präsentation des Dozenten, den Sieg über Übermüdung oder über Hunger wegen fehlenden Frühstücks oder über Ablenkungen von der Verliebtheit – den Sieg trug ein Daumenkino davon. Ein Daumenkino!

Das kennen Sie nicht (mehr)? Eine Hand hält den kleinen Papierblock. Die zweite Hand blättert in zügiger Weise zwischen Daumen und Zeigefinger den Block durch und es entsteht eine Szene, die zu einer Handlung wird. Meist sehr geistreiche, lustige, gar lustvolle kleine Filme auf Papier.
 

Es ist wie in einem uralten Stummfilm mit den noch abgehackt wirkenden Bildern, die in schneller Folge dann den Film ergeben. Oder es ist wie bei einer digitalen Fotokamera, die sowieso und ohne Zutun des Fotografen statt eines Fotos gleich 24 von  Tante Ulrikes 90. Geburtstag schießt. Und am Ende ist Tante Ulrike, unser Familiendrachen, nicht totgeschossen, sondern in Bewegung an ihrem Rollator, wenn man die 24 Bilder schnell nacheinander beamt.
Aber Daumenkino füllt gerade mal eine knappe Minute. Einen dickeren kleinen Papierblock könnten die Finger nicht durchsausen lassen. Hauptperson in jenem siegreichen Daumenkino im Hörsaal ist ein Wesen, das aus dem Ei schlüpft, wächst und ein kleiner, dann größerer Drache wird, flügelschlagend und die erschreckt flüchtende Umwelt verfolgend, weil er Nähe sucht. Zuwendung.
Die Vorlesung ging 10 Minuten später los, weil das Daumenkino erst alle Reihen passieren musste.

Thema der Vorlesung wäre gewesen „Digitale Nähe und räumliche Distanz“. Unsere Politiker, die sondieren oder koalieren oder nun ja auch wieder regieren – sie sollten zwischendurch einander Daumenkino vorführen. Dann sitzen sie mehr zusammen als auseinander. Und gucken auf das Thema statt auf sich selbst.



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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
16. Januar 2018