Erinnerungen an heute
Hans-Helmut Decker-Voigts Kolumne erscheint alle zwei Wochen in der Uelzer Allgemeinen Zeitung. Hier an dieser Stelle wird es ein- oder zweimal im Monat eine neue Veröffentlichung geben.
Arme Schweine

Diese armen Schweine! Wenn ich einer von ihnen wäre - dann wäre ich jetzt schon schwer geschädigt, litte mindestens unter Deprivation, die früher Hospitalisierung hieß. Beides meint die psychischen Schäden, die man kriegt, wenn man zwangsweise seine gewohnte Umgebung verlassen und zu lange in Krankenhäuser, Gefängnisse, Heime gesteckt wird. Oder in enge Ställe. Ich schreibe von den armen Schweinen, die wir vor nun rund drei Wochen eingesperrt haben, abgeschoben. Für unser liebes Federvieh klage ich. Vom Hühnerküken bis zum Vogel Strauß - alles lebt in Gefangenschaft.
Sie sitzen wegen der Vogelgrippe ein - und dies völlig unschuldig. Ja, das Schlimme: Da sie keine Hirnrinde besitzen wie wir, keinen cortex, und in Ermangelung desselben nicht denken und fühlen wie wir, können sie nicht mal jenes erhabene Gefühl genießen, ungerecht eingesperrt, moralisch völlig im Recht und uns ethisch überlegen zu sein.
Wir Menschen leiden in einer Deprivation meist bald unter bekannten Folgeschäden: Durchfall, Kopfschmerzen, Gewichtsverlust, Lebenslustverkümmerung, Depression, destruktive Aggression, Apathie…Unter welchen Folgeschäden leidet jetzt wegen dieser völlig übertriebenen Quarantäne-Maßnahme unser Federvieh? Vogelgrippen gab es vor 100 Jahren schon und trotzdem musste keiner ins Gefängnis. Die Betroffenen starben einen freien Tod, der ahnungslose lebte weiter in der unbekümmerten Freiheit der Ahnungslosigkeit.
Übertragen wir das auf Menschen: Werden wir eingesperrt, weil eine Minderheit von uns erkrankt? Nein, die Minderheit setzt man in Quarantäne. Mein Gott, haben wir eine Angst vor dieser Grippe, nur weil wir sie kennen.

Überhaupt: Je mehr wir kennen an Gefahren, desto beängstigender lebt es sich. Am schlimmsten ist die Angst des Menschen vor dem Menschen. Denn darin haben wir ja reichlich Erfahrung, wie das ist, wenn wir diejenigen Menschen gruppenweise, völkerweise einsperren - nur weil wir Angst vor ihnen haben und sie loswerden wollen.
Und was haben die EU und unsere angstinfizierten Regierungen eigentlich mit den Engeln gemacht, die wir ab in drei Wochen für den Advent dringend brauchen? Deren Mobilität hängt auch von Flügeln ab und sind H5N1-gefährdet. Es wird 2005 die erste engellose Weihnachtszeit geben, mindestens weniger Engel, denn die Trittins dieser Welt zwischen China und unserer Ostheide haben auch die in Qarantäne gesteckt. Nur wildfliegende Wildengel werden wir ab und an in der heiligen Nacht rauschen hören. Bestenfalls fühlen wir auch mehr Engelnähe, wenn wir in Kirchen gehen, weil sie dort kirchengesetzgeschütztes Asyl gesucht haben. Oder schon gestorben sind. Am Virus-Subtyp H5N1.
Ob der jetzige zusätzliche Geflügelfleischskandal bereits ein Zeichen ist - ein böses? Für die engel -und geflügellose Zeit vor uns? Denn an Deprivations-Folgeschäden erkranktes Federvieh wird ähnlich unmöglich schmecken wie der Segen eingesperrter Engel schützen kann. Letztlich sind wir die armen Schweine - engelschutzlos und ohne das Fleisch freiheitlich erzogenen Geflügels.

(15. November 2005)

Den Autor erreichen Sie unter: Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de