Super Nerven

     

Einkaufsschlange am Warenband eines heimischen Supermarktes: Ein älterer Herr, jedenfalls graue Haare unter der Schiebermütze und bedächtigen Bewegungen, packt den Inhalt seines mehr als halbvollen Einkaufswagens auf das Laufband. Langsame Bewegungen muss der Mensch in diesem Alter haben dürfen – finde ich. Schon aus Eigeninteresse beim Blick in die Zukunft. Auch wenn nachfolgende Kunden warten müssen. So wie jetzt inzwischen dreihinter ihm.
Die junge Verkäuferin, superblonde Haare und schnelle Bewegungen, scannt Stück für Stück vom Laufband, das im Nu leer ist. Der Kunde steht daneben und sieht zufrieden zu.Vielleicht geht’s ihm wie mir manchmal: Das Wasser der Vorfreude läuft im Gaumen angesichts des Warenkorbes schonzusammen.
„27,83 Euro, bitte“, sagt die Junge. Der Senior zieht mit der linken Hand – ruhige Bewegungen, versteht sich - seine Börse aus der linken hinteren Hosentasche. „Ich nehm erst mal das Kleingeld raus“, sagt er und zählt einzeln fünf Euro und 40 Cent ab. Dann zieht er aus der rechten Hosentasche eine zweite Börse. Erneut klingeln Münzen vor der Kasse. Die Junge bietet Mitzählen an, aber erntet freundliches Kopfschütteln. „Mach ich selbst.“ Es folgen 43 weitere Cent und 2 Eurostücke, einzeln der Jungen entgegen geschoben. Schließlich ein Zwanziger. Aber der wieder aus der ersten Börse. Aus den drei Kunden hinter ihm sind  inzwischen fünf geworden.

 

Nach Erhalt der Quittung packt unser Protagonist seine Ware zurück in den Einkaufswagen. Stück für Stück. In Ruhe, versteht sich. Sich und den Wagen davonschiebend, nickt er der Jungen zu. „Danke“ sagt er. „Schönes Wochenende“sagt sie.
Ich bewundere Geduld, Nerven und Freundlichkeit der Jungen. Ich bewundere ebenso die des älteren Herrn, der die inzwischen acht Kunden hinter sich als willkommenes Sozialereignis nimmt. Ich verstehe nun aber auch, warum es Typen im Finanzministerium gibt, die nur noch Kartenzahlung wollen. Wahrscheinlich sitzen ihre Kinder an den Kassen. Oder warten in der Schlange.
Oder aber der ältere Herr war ein anonymer Testkunde,wie die Restaurants sie fürchten: Da frisst sich ein anonymer Gourmet-Journalist durch die Speise-Karte, wohnt in der Suite zur Probe – und hebt dann hinterher in einem Journal den Daumen hoch – oder senkt ihn und den Betrieb in die Hölle.

Was immer der ältere Herr ist, Kunde oder Testperson, durch welche die Geduld und Spucke des Verkaufspersonals getestet werden soll – er und die Kassendame haben weitaus bessere Nerven als ich (in der Warteschlange). Dabei bin ich dermaleinst auf die Super-Nerven anderer angewiesen, die hinter mir warten. Supermarktnerven.



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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
15. August 2017