Vertretung

     

Der Untererzengel Gabriel der Kleine vertrat sich im Vorzimmer seines Chefs gerade die Füße. Flügel lasten auf Engelsfüßen nun mal schwerer. Er dachte über die Tätigkeit nach, die er gerade machte: Sich die Füße vertreten. Denn das ist eine der himmlischen Möglichkeiten in der Ewigkeit: Sehr viel Zeit zu haben, auch über nichtige Dinge nachzusinnen. Zum Beispiel über das Vertreten der Füße und über die Vertretungen, die aufgrund der ausgebrochenen Himmelsferien nun für die im Betrieb Bleibenden nötig sind.
Er dachte daran, wie lange er wohl diese niedrigste Stufe im Höheren Dienst ausüben müsse. Da hörte er die Stimme seines Chefs im dritten Ohr. Durch dritte Ohren hören alle himmlischen Wesen alles - ohne Zwischenschaltung von Handy o. ä. irdischen Hilfsmittelchen.
„Du bekommst Deine Chance,“ hörte der Untererzengel Gabriel seinen Chef, den Erzengel Gabriel den Großen, der gerade auf Dienstflug zwischen zwei Raumstationen war, einer amerikanischen und einer russischen.
Gabriel der Kleine unterließ vor Schreck das Vertreten seiner Füße und errötete bis in die Flügelspitzen. Das vergaß er immer noch: Himmlische Wesen untereinander spüren über die ewige Verbindung aller mit allen ja sofort die geheimsten Bedürfnisse im Gegenüber und erfüllen sich diese natürlich sofort.

„Ich gehe übermorgen in Urlaub und du vertrittst mich, Gabrielchen,“ sagte Gabriel der Große und sah mit Vergnügen, wie Gabriel der Kleine noch tiefer errötete. Diesmal vor Freude.

 

„Halleluja!“ sagte Gabriel der Kleine und sah sich schon die Stufe höher: Vertreter des Erzengels! Das bedeutete die Einarbeitungschance bis zur Rückkehr des Erzengels. Diese Einarbeitung würde ermöglichen, sich später um einen freiwerdenden Job als Erzengel zu bewerben. Bald würden welche frei. Wurde gesagt. Denn Gott beabsichtigte außer dem kleinen Planeten Erde einige neue im Stile der alten Erde aufzuschließen, wohin er junges Personal schicken würde. Sozusagen himmlische Kolonisation dessen, was dem Himmel sowieso gehörte. Schließlich lebte die kleine Erde ihrem Ende zu und in nur wenigen hundert Milliarden Jahren würde sie von der Sonne angesogen und würde verglühen. Eben den Weg alles Irdischen gehen.
„Freust du dich?“ fragte der Erzengel seinen Untererzengel. Das war die meistgestellteste Frage im ewigen Leben und Gabriel der Kleine beeilte sich, dies zu versichern mit einem zweifachen  „Ja - Hallelu – Ja!“
Dann fragte er höflich, wo der Erzengel seinen Urlaub verbringen würde.
„Auf der Erde,“ antwortete der Erzengel, „du weißt ja – sie lebt nicht mehr lange. Und da will ich noch mal leben wie sonst Gott in Frankreich immer lebt.“
„Nach Frankreich“ bewunderte Gabriel der Kleine.
„Nein, Norddeutschland,“ sagte der Erzengel Gabriel der Große, „genauer: Diese Ostecke der Lüneburger Heide. Die kenne ich noch nicht.“
„Du musst die Kartoffeln da probieren,“ empfahl Gabriel der Kleine. „Die Sorte `Linda`, die wir gerade noch mal gerettet haben. Ich kam ja vor 690 Jahren von da. Aus Barum.“




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15. Juli 2008