Sitte

     

Älterwerden birgt enormen Zuwachs in Sachen Überblick.
Z.B. über Sitte und Sitten. Nein, nicht „die Sitte“, die in Zuhälterkreisen gefürchtet wurde als Spezialpolizei gegen Unsitten im Geschlechterkampf. Die Sitte ist auch schon Vergangenheit, weil die Polizei mit dem Ändern und Verfall von Sitte(n) nicht mehr hinterherkam, geschweige denn vorpreschte. Ich meine „Sitte“ im Sinn eines grundlegend moralischen Wertes, mit dem die Gesellschaft zu leben versucht.
Ich meine heute die Sitte der Anrede, die mir anläßlich der Börsennachrichten deutlich  wird, die ich täglich vor den Nachrichten sehe. Nicht wegen meines bisschen Geld allein, das Herr Schroeter in Ebstorf klug anlegt. Eher wie mein Kollege Uhlenköper, der nachts österreichische Spätnachrichten vorwiegend wegen der Sprecherin anguckt. Denn ich sehe einen Teil der Börse wegen Anjas verdecktem dunklem Charme (plus Kenntnisreichtum). Wenn ich auf Reisen bin, erinnert sie mich von Ferne auch an Christine in der Ferne. Nur im Charme, nicht in Geldfragen.

Fast ranggleich daneben schätze ich den Markus Gürne wegen seiner Sachkompetenz. Nicht wegen seines Charmes, denn sein Charme wurde mir seit zwei Wochen etwas zu aufdringlich.
 

Bisher begrüßt er mich mit „herzlich willkommen in der Welt des Geldes“ und über das „herzlich“ sehe ich hinweg, weil der Mann ja sein unherzliches Thema irgendwie kompensieren muß. Aber seit kurzem verabschiedet er sich mit dem Superlativ der Herzenssprache, mit „Herzlichst“.
„…wünscht Ihnen einen guten Abend, von wo auch immer Sie zuschauen“.
Was zuviel ist, ist zuviel. Ich respektierte den Wandel der Sitte der Anrede bei Willkommen oder Abschied Mitte der 80 er, als das „sehr geehrte…“ mutierte zu „lieber  Herr“, obwohl man sich nicht kannte. Das war immerhin gut gemeint, wenngleich bei Gutgemeint manchem schlecht wird. Ende der 90 er Jahre dann das „Hallo“. Ob die Hallo-Nutzer wissen, dass die Geschichte des „Hallo“ auch bedenkliche Schichten hat. („Da gab es ein großes Hallo“ oder noch labiler der „Hallodri“ = ein leichtsinniger Charakter oder Hallo als Notruf).
Markus Gürne leidet vermutlich unter all dem Sittenverfall und übertreibt nundie Gegenrichtung, wechselt neuerlich von „Herzlich“ zu „Herzlichst“. Was noch unklar bleibt: Meinen die Anredenden sich selbst als Absender, wenn sie „High“ oder „Hallodrias“ vermuten. Oder tatsächlich mich? Und spricht Gürne denn nur Frauen und mich an?




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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
15. März 2016