Alles geschieht zum ersten Mal: Erstmalig in meinem Leben am Mittag eine Stunde vor dem Fernseher zu sitzen, erstmals, um eine Beerdigung mitzuerleben, die eine Viertelstunde von mir entfernt stattfand. Ein wenig schuldgestimmt, weil "letzte Ehre" geben bisher in mir nie mit Fernsehen verbindbar erschien.
Die Menschen, die ich dann reden, hörte, ließen mich vergessen, daß ich fern-, bzw. nahsah, ließen mich vergessen, was ich vorher aus ihren Mündern und damit Seelengeistern hörte. Es waren Menschen, die etwas gestalteten, was ich mindestens einem Teil von ihnen bisher nie zugetraut hatte: Ein wirkliches Ritual, d.h. eines, das wirkt auf den, der dabei sein darf. Sogar nur am TV.
Bisher hörte ich die Redner dieser TV-Beerdigung unseres um unsere Republik verdienstvoll gestorbenen Mitbürgers Dr. Peter Struck nur aus Bundestag, aus Bundeswehr in dort üblichen Formeln antworten, die in der Politik den Hang zu Hohl-Formeln entwickeln. Speziell, was mit Redeinhalten im und aus dem Bundestag zusammenhängt, könnte oft eher mit Bundesnacht verbunden werden. "Restringierter Sprachcode, repetitive Signalstandards, minimale Substrate" - diagnostiziert die Sprach-Wissenschaft Sprache und Sprechen in der Politik.
Dann, jetzt, hier, vor einer Woche in St. Marien erscheinen dieselben Menschen anders. Sie setzen Worte und der Hörer fühlt: Diese Worte meinen sie. Sie gehen keine Schritte zum Pult, von wo Gottes Wort sonst klingt oder von wo Töne zu seinem Lob schwingen – sie schreiten Schritte und auch an solchen läßt sich mitfühlen: Da geht jemand, der keine Pflichtschritte geht, sondern da schreitet jemand zu etwas, was ihm schwerfällt…Bundestagsfraktionsvorsitzender, Bundesverteidigungsminister, Generalinspekteur, (Militär-)Bischof – die Rollen und Ränge werden sekundär und die Trauer primär. |
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Der Begriff "Ritual" stammt aus mindestens vier Sprachwurzeln, von Latein bis zum Indogermanischen und alle meinen Ähnliches: Ein Ritual soll "angemessen" sein, soll fügen, soll verbinden (s. die Fuge als musikalische Hochkunst der Verflechtung von Melodieprozessen). Ritual hängt mit Ordnung zusammen.
Alle Mythologien, Religionen und Heilungskünste entwickelten ihre Rituale für etwas in den Menschen, die das Ritual tragen, um dann ihrerseits vom Ritual getragen zu werden. Z.B. in ihrer Trauer. Rituale waren und sind immer auch entwickelt worden in Pädagogik und Politik, zeitweise mit entsetzlichen Absichten und Folgen derselben in Diktaturen von Nationen und der Diktatur kleinerer Gruppen, sind entwickelt worden zur billigen Reklame und als Gefäß für große und größte Gefühle. Geraten Rituale jedoch in Inflation ("Happy birthday to you", "mein Beileid" im Ton von "sorry") verkommen sie. Aber ein Ritual, das von echten Gefühlen getragen wird – wie vor einer Woche der Trauer um einen, in dessen Persönlichkeit sich so viele fanden und ihr Dankbarkeit gegenüber fühlten - trägt diejenigen, die es tragen. Sogar die, am Fernseher.
Auch meine Fachwissenschaft und ich danken Peter Struck viel, denn er tat durch ein einziges Interview, das ich mit ihm für eine Fachzeitschrift führte, viel für Musiktherapie, der er wichtige Türen in zwei Bundesministerien öffnete. Musik liebte er sehr, besonders große Oper, aber auch Kinderlieder, von denen er eines mit mir (an-) sang, als es um die frühe psychische Prägung und die Symbolbotschaften durch Musik in der Erziehung ging: Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald…
Er hat sich mit der Kenntnis, wieviel und wohin der Mensch sich verlaufen kann, als Politiker und Mensch so wenig verlaufen, wie außer ihm nur wenige Menschen in unserer Gesellschaft und ihrer Politik. |