Von Zeit

     

Ernst macht Abenteuerurlaub. Er kaufte jetzt vor den Ferien eine Reise, die ihn erstmal aufs Wasser führt, auf ein Wildwasser im Amazonas-Gebiet. Ernst buchte eine Woche dafür, um zu erproben, was er auf dem Elbe-Seitenkanal und der Ilmenau ein Jahr lang übte: Kanufahren in reißenden Strömungen und hinreißenden Angstbewältigungserfolgen. Die Woche inklusive Flughafentransfers, Flugzeiten, Hotel-Transfers, Einführungsseminar. Danach wird Ernst noch eine Woche an der Nordsee dranhängen und Kiten lernen, so eine Art Surfen, bei dem ein Drachen aus märchenhaft reißfestem Material einen übers Wasser zieht wie Jesus. Nur dass bei dem sich kein Drachen hielt.

Alexandra hat einen Meditationskurs gebucht. In Indien. Näher gings nicht, weil erst so weit entfernt die wirklich guten Meditationslehrer lehren. Der Meditationskurs ist mit einer Fastenkur gekoppelt.

Es geht also um die Kunst, die Zeit in Ferien zu gestalten und nicht sich von der Zeit gestalten zu lassen. Gebrauchen wir die Zeit ohne den Alltag – oder verbrauchen wir sie wie im Alltag? fragt der Philosoph Wilhelm Schmidt heutzutage und Diogenes in seiner Tonne im alten Griechenland fragte sich das auch schon. Nichts, wozu die Psychoanalyse nicht auch Wichtiges zu sagen hätte. Also her mit Sigmund Freud, der die Gegenwart als Nadelspitze bezeichnete, auf der sich Vergangenheit und Zukunft treffen.
 

Verdammt eng auf dieser Nadelspitze angesichts unserer überladenen Vergangenheitserfahrungen und den hoffnungslosen Versuchen, vergangene Fehler durch Grübeln zu beseitigen. Verdammt eng angesichts all der Sorgen um Zukunft.
Gegenwart ist diejenige Sorte von Zeit, in der Veränderungen stattfinden können. Und anders, verändert, uns verändernd sollten Ferien, sollten Urlaubstage sein. Weg mit dem, was uns im Alltag die Zeit verbrauchen lässt und weg mit dem, was wir an drängenden Zukunfts-Problemlösungen in die Gegenwart durch andauernde Planung vorwegzunehmen hoffen. Unendlich viel Urlaubszeit wird durch Planung vergeudet, die oft aus dem vorauseilenden Gehorsam gegenüber der uns zwingenden Zeit erwächst.
Dabei ist Ur-laub eine Zeit, die uns er-laubt, genau das Gegenteil von Zwängen zu leben.
Alexandra mit ihrem Meditationskurs fände ich besser als Ernst, der jetzt in diesen Tagen im eiskalten Wildwasser schwitzt. Wenn ich Alexandras Ferienterminkalender nicht zufällig gelesen  hätte. Aufstehen mit Sonnenaufgang, dann im Zweistunden-Takt Gruppentermine, Mittagsruhe mit „Haus-Aufgaben“, nachmittags vierfacher Wechsel von Einzel- und Gruppenmeditation usw. usf bis zur Tagesschlussbewertung durch einen „Trainer“ (aus Düsseldorf, nicht Indien).
Was ich gerade mache? Ich sitze im Strandkorb – und Sie wollen mit mir jetzt strandwandern? Geht nicht, ich maile gerade am Laptop. Es ist ja immer was zu tun…




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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
14. Juli 2009