Selfie

     

Das klingt so niedlich. Und ist es auch. Das zweigliedrige niedliche Wort meint die Selbstporträts mittels Kamera im Handy. Aber „Selfies“ gibt es, seit es den Menschen gibt – schon ohne Handy.
Großtante Ulrike machte ihr Leben lang Selfies. Zig, neun, hunderte Selfies täglich. Denn sie verschwand immer wieder im Tagesablauf kurz im Badezimmer, schloss sich ein, um kurz danach ohne Rauschen der Toilette wieder zu erscheinen. Als Kinder wollten wir wissen, was Tante Ulrike da immer zwischendurch machte, weil wir doch kein Rauschen hörten, es also  nicht um dauerhaften Durchfall oder schwache Blase ging. Das Schlüsselloch ermöglichte die Lösung. Ganz einfach: Es war der Badezimmerspiegel, in den sie immer wieder neu schaute, immer wieder. Wie die Mutter von Schneewittchen stand sie vor dem Spiegel und vergewisserte sich ihres Spiegelbildes. Ihres Selfies. Der Spiegel unten im Flur wäre zu unruhig gewesen. Für Selbstbetrachtung bedarf es bestimmter Ruhe. Auch der Jüngling Narziss in der Mythe der Antike  brauchte Ruhe, keinen Windhauch auf der Wasseroberfläche des Sees, damit er sich in ihm spiegeln und sich in sich selbst verlieben konnte.
Tante Ulrike, wir alle, die wir mal vor Spiegel standen und uns darin studierten, machen Selfies. Selfies sind in der Regel ein gutes Zeichen dafür, dass wir uns selbst ganz gut finden.

 

Die Ausnahme von dieser Regel ist, wenn wir uns zu gut finden. Oder uns gar nicht finden.

Das Selfie mit dem Handy unterscheidet sich aber in einem Punkt sensationell von allen anderen Selfies, die wir durch die Jahrhunderte von uns machten: Das Selfie vom modernen Menschen wird gar nicht in erster Linie gemacht, um sich selbst darin zu sehen, sondern um sich mit einem anderen darin zu sehen!
In den Nachrichten sehe ich sie, die Mitmenschen, die ihren Arm ausfahren und dann ein Selfie machen, wenn Angela Merkel neben ihnen steht. Oder Herr Gauland von der AfD. Oder Königin Silvia. Auch Papst Franziskus legt schon mal den Arm um einen Jugendlichen, dessen Arm das Handy schwenkt zum Selfie. Manche Rockstars verlassen nach dem Konzert ihren Himmel und steigen zu uns herab, bereit für Selfies mit Sterblichen, die dann nach Hause eilen im Glück, dass das Göttliche zwar nur ganz kurz neben ihnen zu sehen war – aber diese Kürze ist festgehalten worden im Bild. Auf ewig.

Das noch Tragischere am Selfie mit einem der Promis: Die Selfie-Macher schauen ihr Motiv gar nicht mehr direkt an, sehen nicht in die Augen des Papstes oder von Angela oder Grönemeyer. Sie sehen in die Kamera. Das Original haben sie nie so direkt angesehen wie die, die da nur gucken kamen.



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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
13. September 2016