Erinnerungen an heute
Hans-Helmut Decker-Voigts Kolumne erscheint alle zwei Wochen in der Uelzer Allgemeinen Zeitung. Hier an dieser Stelle wird es ein- oder zweimal im Monat eine neue Veröffentlichung geben.
Schluß mit Fußballphilosophie

Leider, leider ist sie zuende. Unsere WM. Und damit auch meine kleine Fußballphilosophie. Fangen wir ihren Schluß an mit Siegern und Siegen. Wenn Siegen und Sieger wirklich spannend sein wollen, dann dürfen es nicht immer wieder dieselben sein. Mit Bayern München geht es im Blick auf Spannung, auf Abenteuer, auf Überraschung ein bisschen bergab. Weil sie nahezu-immerzu Deutscher Meister sind und wir uns höchstens wundern, wenn sie es mal nicht sind.
Sieg ist dann nur wirklich spannend, ist überraschender Triumph, je weniger er vorausberechenbar ist. Insofern ist die massenpsychologische Erfahrung, wie wichtig begeisterte Fans für den Sieg derer sind, für die sie sich begeistern, die Spannung verringernd. Meister, heißt es, internationaler Meister, Meister der Welt würde der, der zuhause wettkämpft. Mit heimischen Bedingungen. Mit seelenverwandten Fans, die die Höhepunkte eines Spiels herbeijubeln, die Tiefpunkte beweinen - manchmal mehr als der, der tiefpunktet bzw. daneben spielt. Siege finden dort statt, wo die Hoffnung der Spieler potenziert wird durch die Hoffnung der Fans. Hieß es. Bis jetzt, wo wir uns mit der Weltmeisterschaft im Gastgeben, nicht im Spiel der Nationen ehren dürfen.
Was uns bei immer gleichen Siegern, also langweilenden Siegen, an den Sieger kettet, ist das Ritual, verehren, bejubeln, idealisieren, anbeten zu dürfen. Was wir uns in unserer mündigen Demokratie versagen, was wir dort nicht dürfen, weil sie sonst keine mündige mehr wäre. Wir treffen uns selbst bei langweiligen, weil vorausberechenbaren Siegern

und bejubeln sie, weil wir sonst nirgends mehr so unbefangen jubeln und huldigen dürfen. Wer jubelt heute noch so öffentlich für (s)einen Gott oder sonstige Größen wie für Fußball-Weltmeister?  Das sind wenige idealisierende Menschen, Psychotiker, die im Wahn leben und dem Sieger als Vollkommenen möglichst nahe sein wollen, Teil von ihm sein wollen, weil sie allein unter dem Unvollkommenen unerträglich leiden.
Weltmeisterschaften bieten das erhebende Gefühl, Ausgewählte, sportlich Erwählte legal und öffentlich anbeten zu können - weil alle anderen denselben anbeten. Fußballgötter, auch die auf dem dritten und vierten Treppchen, erlauben uns Rituale, die uns wieder vereinen in etwas, was wir uns sonst verbieten: Einen Kult. Sich in einem Kult zu treffen ist eigentlich Sehnsucht jedes Menschseins, das die verlorene Vollkommenheit woanders sucht. In Kult und bei den zu einem Kult gehörenden Göttern. Das ist Fußball geworden, ein Kult mit Göttern unserer Welt, die medial vervielfältigt sämtliche bisherigen religiösen Götter überholten, besiegten.
Sie hat sich ausgespielt, unsere WM. Und all unser jauchzendes Treffen in einem gemeinsamen Kult entzieht sich uns.
Was kommt? Nur Vergessen? Warten auf nächste Sieger? Ach was. Der Sieger trägt Lorbeer und Lorbeer hält lang. Der Verlierer, der sich als Märtyrer fühlen sollte, trägt Palme - und die hält ebenso lang. Tragen wir also stolz, was uns gebührt. Und zeigen wir weiter, was wir endlich ein bisschen lernten: Flagge zeigen. Das nächste Mal am 3. Oktober. Was da ist? Die nächste Gelegenheit, uns als "Wir" zu fühlen: Nationalfeiertag.

(11. Juli 2006)

Den Autor erreichen Sie unter: Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de