Die weißen Tomaten

     

„Mein lieber Großsohn“ sagte Großvater zu mir und das war eine Zeit, als man als Enkel noch so angeredet wurde, wenn etwas ernst ist. „Du sollst nicht soviel Salz auf die Tomate streuen wie ich. Schon gar nicht, wenn du nicht wissen kannst, wie vorher gewürzt wurde. Was Rot ist muss rot bleiben.“ Das war wirklich nur auf Tomate bezogen, nicht auf das Rot in der Politik.
Er sagte das im Auftrag von Großmutter und Mutter, die ihn als miserables Vorbild für mich sahen, denn er begann zu salzen und zu pfeffern, bevor er überhaupt gekostet hatte.
Später hörte ich vom obersten Chef eines skandinavischen Konzerns, den jeder kennt, wie er wichtige Posten besetzte: Er lud die zwei besten Bewerber zu sich zum Dinner bei gutem Essen mit reichlich Salat und Vorsuppe, dann Fisch oder Geflügel, alles kaum gewürzt.

Wenn dann einer der Bewerber vor dem allerersten Kosten und Bissen bereits zu würzen begann wie mein Großvater – dann war die Stelle für den neuen Topmanager bereits entschieden. Der kriegte sie nicht und erfuhr auch warum:
 

„Wenn Sie ohne Kenntnis, was Sie vorfinden, bereits radikal verändern – wie wollen Sie wissen, wie es ist? Ob es nicht so , wie es ist, bereits schmeckt, gut ist? Und Ihre Neuerungen nicht besser dort platziert wären, wo Sie nach dem Kennenlernen merken: Da braucht es dringend: Veränderung ?“
Der vorsichtig schmeckende, eben kostende Bewerber – der bekam die Stelle.
Nun lässt sich das auch anders sehen: Da bewirbt sich so ein Sofortveränderer und bekommt die Stelle. Eben weil der Salat, den er essen will, bekannt dafür ist, überhaupt nicht schmackhaft zu sein.
Aus diesem Grunde würze ich wie Großvater. Vor dem Probieren. Und auch meine roten Tomaten (und das graue Hackfleisch der „Beamten-Stippe“, eines meiner Lieblingsessen und die meisten Kohlarten) würze ich ungeschmeckt.

Weil Christine Natur bevorzugt. Damit aber die Enkelkinder nicht von mir abgucken sollen, predige ich denen jetzt dasselbe wie mein Großvater mir. Ich muß sie nur anders anreden. Sonst fühlen Sie sich nicht angesprochen. „Großsohn? Großvater, was ist denn Großsohn?“



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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
11. April 2017