Kuschelpolitikwerbung

     

Ich gehe in Sachen Zeitungslektüre und Wahlplakaten derzeit fremd. In einem kleinen Städtchen im Sachsen-Anhaltinischen.
Statt AZ zuhause - die „Volksstimme“ hier. Statt überwiegend CDU- und SPD-Plakaten zuhause, hier die Hauptstraße rauf nur Piratenpartei („Wann kommen wir endlich ans Netz“), die Hauptstraße runter „die Linke“ (Mindestlohn).
Ich lerne hier viel. Z.B. werden in der „Volksstimme“ und in der(aufzählen) die umherreisenden Missionarinnen und Missionare der Partei nur mit Vornamen angekündigt. Beispiele….
In der AZ wurde nur einmal vorangekündigt „Renate kommt!“ Was auf mich bedrohlich wirkte, weil meine Chemielehrerin so hieß und nie was Gutes verhieß, wenn sie Hefte zurückgab. Mit Frau Künast verbinde ich nichts (Bedrohliches). Aber stellen wir uns vor, die SPD lädt ein  zu „Kirsten“ oder die CDU zu „Henning“. Vermutlich hätten unsere beiden Volksparteien-Vertreter (als ob die anderen nicht auch Volk wären…) und allgemein unsere Politiker gar nichts gegen das Duzen – vorausgesetzt, man wählt sie. Im Westen wäre das die neue Kuschelpolitikwerbung: „Wenn Sie mich wählen, biete ich Ihnen hinterher das `Du` an.“

Wir, wir Wähler, könnten dann in small talks beiläufig einflechten, daß die Kirsten (oder Henning) mir erst kürzlich gesagt hat, daß…
 

“ Man müßte bei uns im Westen nachschieben, daß es sich um „die Kerstin“ und  „den Henning“ handele. Sonst wirkts ja nicht und bewirkt ja nichts.
Duzen darf natürlich nicht gesetzlich verordnet werden  - wie in jedem dänischen Krimi zu erleben und außerhalb  derselben in mehreren skandinavischen Ländern. Die leben dort wie bei uns in Grimms Märchen: „Hallo, Herr König, mir gefällts in  deinem Land (oder eben nicht).“

Im Ernst: Was mit Kirsten und Henning und Co nicht so einfach geht, geht hier im Anhaltinischen seinen selbstverständlichen Gang, weil die sozialistische Erziehung nachwirkt und die Menschen (noch) nichts anderes kennen – als die Nähe zueinander aufgrund der Entfernung zur Politik von damals (und vielleicht auch heute). Im Supermarkt wünsche ich um 19, 30 der Verkäuferin einen guten Abend und sie strahlt zurück „dir auch!“. Und als mein vollelektronisch-digtalgesteuertes Schiebedach (das meines Autos, meine ich) nicht schließt, weil es sich eben nicht mehr von Hand schieben läßt, da tröstet der Werkstattchef mit einem Blick auf meinen Kfz.-Schein, in dem auch Titel stehen: „Siehst du, da nützt einem auch der Dr.-Titel nich, nich? Aber ich nütz dir jetzt was…“ Und er reparierte schnell und kostenlos. Fast hätte ich ihm das Du angeboten. Vor Dankbarkeit.



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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
10. September 2013