Das Gerücht

     
Erst war es ein Gerücht, das während des Abwaschens nach dem Essen beim Familientreffen zu riechen war. Gerüchte riecht man, bevor man sie hört. Dieses Gerücht machte wie jedes gute Gerücht schnellste Karriere: Es wurde Spekulation, dann ungesicherte Information, dann, absolut gesichert, also Wissen: Onkel Hermann hat eine Freundin.
Nein, nicht nur eine einfach nette Nachbarin vom Essenstisch in seiner (Senioren-) Residenz. Sondern eine mehrfach nette Freundin. Eine richtige. Mit Händchenhalten und so. Wahrscheinlich auch mehr.
Es waren zahlreiche "Zzzzz`s" zu hören, denn die Familie ist eine Großfamilie. Weshalb auch die Schütteleien von Köpfen zahlreich waren und erst recht unzählig die Schütteleien innerhalb der Köpfe. Onkel Manfred, jüngster Bruder von Onkel Hermann und erst 76 Jahre alt, sprach es mutig aus:
"Mußte das nun noch sein? In Hermann`s Alter?" (Onkel Hermann ist 84).
Der war mit 56 Jahren Witwer geworden und zog nach seiner Pensionierung gleich in diesen Edelalterungsschuppen, um von dem aus Verwandten aus der Geldpatsche zu helfen, weil sie nicht mit Geld umgehen können. Oder um es ihnen zu schenken, wenn sie arm waren. Außerdem hielt er herzliche Reden bei den runden Geburtstagen seiner fünf Geschwister (Onkel Hermann ist der Senior) und bei seinen früheren Kollegen (Onkel Hermann war ihr Chef). Er ist eben sehr beliebt, weil er allen gehört. Gehörte.
 

Denn jetzt das: Eine Freundin! "Frechheit!" sagte Tante Uschi zu dem Ganzen, genauer: Zu der neuen Frau an seiner Seite. Sie sagte es mit einer Stimme, die akustisch einer Sinuskurve ähneln sollte. Derart gleichbleibend ätzend klang sie. Tante Uschi hatte auch Grund zum Ätzen. Denn ab und an hatte Onkel Hermann sie, seine Cousine, zu einer kleinen Begleitung einer kleinen Reise eingeladen. Was jetzt nicht mehr passierte, denn Onkel Hermann verreiste mit seiner Frechheit.
"Ich find das gut," reagierte Friederike, die die Frechheit schon gesehen und für sehr nett befunden hatte. Außerdem sei die Frechheit sportiv, was Onkel Hermann mit seiner Dauerpräsenz im Kopf nur gut tun könnte: Mit 80 Jahren besteigt sie Berge, schwimmt morgens um 6, radelt zwei Stunden auf ihrem Drahtesel und sieht entsprechend drahtig aus. Die beiden Liebenden sollen sich schon von früher kennen, Elternsprechtage der gleichaltrigen Kinder und so. Aber immer per "Sie".
Onkel Hermann ist jetzt seltener in der Familie. Und wenn, dann nur, wenn er eines der Händchen von seiner Freundin halten kann. Die sitzt dicht neben ihm und kennt das Leben. Wie er.
Und deshalb wundern sie sich nicht über die "Zzzzz`s" unter den gleichaltrigen Familien- und anderen Mitgliedern der Gesellschaft mit kleiner Restlebenszeit, sondern genießen den Beifall der Jugend. Manchmal sind Gerüchte wirklich gut.




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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
09. Oktober 2007