Fehleinschätzung

     

Der junge Mann gefiel dem älteren Herrn gar nicht. Überhaupt nicht. Der Junge trug diese Schlabberjeans, deren „Schritt“, also jene Verzweigung der beiden Hosenbeine parallel zur Verzweigung der Oberschenkel, gar nicht mehr der Anatomie dienten. Der Schritt hing in den Kniekehlen. Dann missfiel dem älteren Herrn die Frisur: Kurz und geölt und vorne dieser hochgekämmte Stiez wie bei dem Moritz von Wilhelm Busch.
Am meisten missfiel dem älteren Herrn der Ort, wo sich der Jüngere aufhielt. Es war eben derselbe Ort, wo er sich aufhielt.
„Warte-Lounge für unsere Werkstattkunden“ stand an der Tür zu dem Warteraum und darin gab es TV, Kaffee-, Teemaschine, Wasser mit und ohne Gas, kleine Snacks, PC mit Internetanschluß und Spielen. Kostenlos alles. Die Autos, die hier regelmäßig inspiziert wurden, waren Luxuskarossen. Weswegen sie eben offiziell laut Werbung auch nur inspiziert, nicht repariert wurden. Es sei denn, der Kunde hatte den Luxus irgendwo gegengefahren.
Den Älteren wurmte, dass solch Flegel sich offenbar dieselbe Marke leisten konnte wie er. „Heute erbt ja alles alles - wir mussten noch selbst arbeiten“ dachte er. Denn wiederum ein Angestellter, der den Wagen seines Chefs abholen sollte, war dieser Knabe auch nicht. Keine Firma tolerierte ein solches Outfit ihrer Mitarbeiter.
Dann saß da noch ein Dritter, ein Herr wie der andere Herr.

 

Zwar kein Nadelstreifen, dachte unser Herr über den anderen Herrn, aber immerhin guter Sakko mit Marineknöpfen. Yachtclubmitglied, irgendwo zwischen Elbe-Seitenkanal und Damp 2000. Na ja, dafür habe ich meinen Zweitwohnsitz im Schwarzwald.
Eine freundliche Service-Dame in blauem Kostüm mit schwarzen Strümpfen trat ein und informierte den Herrn im Sakko. „Herr Dr. Karlmann - Ihr Wagen steht draußen abholbereit.“
Dann wandte die freundliche Dame sich noch freundlicher zu dem Moritz von Wilhelm Busch in seiner Un-Hose.
Na ja, klar, Jugend unter sich, Botenstoffe, Hormonhaushalt, Sex, dachte der seriöse Herr im Anzug und war noch saurer.
Die Service-Fee strahlte den Jüngeren an:
„Herr Dr. Dr. Kohlfärber – Ihr Wagen ist ebenfalls fertig.“
Der ältere Herr fühlte – wie so oft schon – seine Welt zusammenbrechen. Dieser Flegel – ein doppelter Dr. !Immerhin – tröstete sich der Ältere – erklärt das den Wagen.
Der Sakko und die Un-Hose verschwanden mit dem blauen Kostüm und so hörte der seriöse Herr nicht mehr, was die Unhose dem blauen Kostüm erklärte: „Das ist das Auto meines gestorbenen Onkels, eben dem Kohlfärber. Ich habe es geerbt. Und kann es auch prima brauchen, denn meine erste Lehrerstelle ist ebenso weit entfernt wie das Referendars-Gehalt niedrig ist.“




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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
09. September 2008