Weihnachtslied eines Flüchtlingsjungen

     

„Gar nichts ist aus dem Bürschchen herauszubringen! Es muß mit einer dieser Flüchtlingsgruppen hergekommen sein und da dachte ich, dass Sie, Herr…“
Genau so beginnt eine Erzählung von E.E. Ronner, die ich von meiner Mutter erbte, also eine Generation zurück. Die Erzählung selbst fußt auf einer umfangreicheren Dokumentation über das „Bürschchen“ und den Herrn, die sich beide getroffen haben, als die Kriege Napoleons Europa erschütterten und Einzelne und Gruppenaus ihrem Land zu flüchten zwangen.
Wenn das Bürschchen damals länger gelebt und selbst Kinder bekommen hätte – dann würden seine Nachkommen heute reicher sein als die Autoren vom „Herrn der Ringe“ oder „Harry Potter“. Wegen Tantiemen. Denn (ab jetzt die Dokumentation, die auch noch im Besitz meiner Mutter war):
Der Junge wurde mit hohem Fieber abgeliefert bei einem Herrn Legationsrat Falk, jener, derdann 1813 ein „Rettungshaus“ für verwahrloste Kinder gründete. Schon vorher nahm Herr Rat Falk Kinder auf, eben auch kranke. Wie jetzt das „Bürschchen“. Nur soviel wurde mit Übersetzerhilfe herausbekommen: Von Italien kam das Kind, es sei ca. 8 Jahre alt, vom Sprachklang her aus Sizilien. Erst in einer Gruppe flüchtend, zuletzt  allein, jedenfalls allein gefunden.

In der zweiten Nacht kam die Krisis, der Höhepunkt des Fiebers,

 

das mit Krampfanfällen verbunden war und derentwegen der Herr Rat Falk neben dem Bett wachte. Der Junge wurde etwas ruhiger, schlief ein bisschen, dann begann er zu singen, bruchstückhaft, zittrig, halblaut und zwischen Singsang und Summen wechselnd, aber  für Falk deutlich erkennbar eine Melodie und die ersten Worte. Es war eine süßliche Melodie, eine, mit der Marienlieder gesungen wurden und auf Marienlied deuteten die ersten Worte hin, die der Junge einige Male ansang und nicht weiterkam mangels Kräften: „Oh Sanctissima, oh Piissima…“ (oh du Heiligste, du Frömmste“). Nur noch das Summen. Falk schrieb die Melodie auf und dann im Metrum der ersten Worte des sizilianischen Liedes die erste Strophe, die alle kennen, alle: Oh du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit. So nahm Joh. Gottfried v. Herder das Lied in seiner Sammlung auf und 1829 reimte Heinrich Holzschuher, ein Erzieher, ein „Gehilfe“ von Falk die uns vertraute 2. und 3. Strophe erst hinterher. Ursprünglich bezog sich die 2. Strophe auf „gnadenbringende Osterzeit“, die 3. auf Pfingsten.

Das Bürschchen konnte nicht gerettet werden, aber ohne diesen Flüchtlingsjungen würden wir dies „unser“ Lied nicht singen und lieben. Und wer weiß, was alles in gut 200 Jahren von unseren Nachkommen geliebt wird als „deutsche Kultur“, obwohl sie von den Flüchtlingen von heute  stammt.



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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
08. Dezember 2015