In der Ruhe |
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liegt die Kraft. Das
sagte Schwester Ursel mit leichtem, ganz leichtem Unterton von Mahnung -
liebevoller Mahnung. Schwerer und weniger liebevoll durfte der Unterton
auch nicht sein, denn Ursel war in einem Helferberuf: Schwester. Ordensschwester.
Oberschwester i.R. Seit sieben Jahrzehnten hilft sie. Mit ihrer Kleinstpredigt
aber wurde sie soeben das Gegenteil von Hilfe: Ein Problem. Ein Zeit-Problem. Denn bis vor zehn Minuten war meine Zeit noch ruhig fließend geplant. Eine volle Stunde zwischen zwei Terminen, in der ich Dorothea ihr Zimmer zeigen wollte. Das neue Bad, die Kochnische, einen Einweihungs-Kaffee trinken und wieder zurück in die Behörde. Reichlich Zeit dafür: Eine Stunde, eine volle Stunde. Keine "Rush Hour", keine Baustelle, 15 Minuten hin, 15 zurück, plus 15 Minuten zusätzlicher Karenzzeit. Wann habe ich schon Karenzzeit ? Aber da stand sie dann auf dem Flur, Oberschwester i.R. Ursel. Und freute sich. Mein Gott, freute sie sich. Das tat sie, als Dorothea und ich gerade in den Korridor einbogen, um im Zimmer die kleine, geruhsame Zeit des Zeigens, Kaffees zu genießen. 15 Minuten plus Karenzzeit. Die Freude baute sich vor uns in ihrer Schwesterntracht auf und versperrte den Korridor außer mit so viel Freude mit ihrer Körperfülle. Nein, wie groß und schön dieses kleine Mädchen von damals geworden sei. Ein richtige schöne Frau. Nein, sogar eine junge Dame. Nein, aber auch. Ich, der Vater, der seiner Tochter das Zimmer zeigen wollte, nicht die Tochter Schwester Ursel, musste handeln. |
Ich schob den Jackenärmel
nach oben und schaute sanft auf die Uhr. Sanft nachdrücklich. "Wieder
so eilig, der Herr Papa
?", strahlte Ursel Dorothea an und steigerte
ihre Freude durch noch größere Nähe: "Für dich
bin ich Ursel, nicht wahr Dorothealein?" Die obligate kurze Umarmung,
dann lange Loslösung aus derselben. "Nein, so jung und so schön.
Und nun bin ich nicht mehr allein auf der Etage - wo doch letzte Woche im
Stockwerk drunter eingebrochen worden sei." Es folgte die Liste der vermuteten Raubstücke und Räuber. Ich schaue ein zweites Mal auf die Uhr und rechne die vergehende Karenz-Zeit ab, als Schwester i.R. Ursel der Dorothea den Gebrauch des Abfalleimers erklärt. Ein Abfalleimer, der wie jeder andere ist: Eimer. Nach der Eimererklärung ("wie praktisch, nicht? Kein Trennabfall mit diesen verschiedenen Tüten und Fächern") freut sich Oberschwester i.R. daran, dass Dorothea so viel ruhiger sei als ich, ihr Vater (ausgerechnet Dorothea. Ruhig!). Ich will ein drittes Mal den Ärmel hochschieben, denn statt Filterkaffee reicht es jetzt höchstens zur Cappuccino-Tüte. Da wird Oberschwester i.R. direkt und wendet sich an mich, eben mit diesem mahnenden Unterton bei ihrer nun folgenden Kurzpredigt über das Thema "In der Ruhe liegt die Kraft". Sie hat Recht, Schwester Ursel. Aber sie hat auch nicht die Schwester Ursels dieser Welt am Hals und einen Termin vor sich. Karenzzeit ade. Nicht mal Tütenkaffee war drin. |
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08. April 2008
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