Belohnungsentzugsneurose

     

Der Bandwurmtitel fiel mir ein, als ich mich mit dem Technischen Hilfswerk mitfreute, das 2010 mehr als 1100 Stunden Dienst getan hat – und Ehrungen für seine Leistungen erhielt. Und die neue Form einer Neurose fiel mir ein, als ich vom kirchlichen Orden las, den der 16 jährige Simon Stephan für 10 jähriges Ehrenamt in der Evangelischen Jugendarbeit verliehen bekam (er begann sein erstes Ehrenamt also schon mit 6). Natürlich freuen mich auch die reichlichen Medaillensegen und Ehrenurkunden, die die Feuerwehr verleiht, die noch größeren des Kyffhäuser-Bundes und die für mich als saisonal aufmerksamer Leser fast nicht mehr zählbaren Orden, Ehrenzeichen, Ehrenurkunden der Schützenvereine. Wirklich zum Mitfreuen.

Weswegen ich so bewusst im Blick auf „Ehrungen“ Zeitung lese und Protokolle von Berufsverbänden aller Art: Es gibt sie wirklich, diese „Belohnungsentzugsneurose“. Sie steht noch nicht im international verpflichtenden Katalog aller möglichen und unmöglichen Erkrankungen (ICDS 10). Aber sie wird im nächsten enthalten sein.

„Belohnungsentzugsneurose“ klingt zunächst (na, wie?) satirisch, nicht? Aber „Belohnungsentzugsneurose“ ist als diagnostischer Begriff, den ich in den Uni-Kliniken von Moskau und Orenburg und kürzlich auch in Münster kennenlernte. Er stammt aus demheutigen Russland und den Ländern, die früher zum Ostblock gehörten.

Dort wurde nämlich im anderen gesellschaftlichen System derart viel belohnt,
 

daß hiesige und heutige Feuerwehr-, Schützenvereins-, Kyffhäuser-Ehrungen usw. zusammengenommen geradezu verschwindend selten sind. Jede merk - und fühlbare Verbesserung in den Produktionsergebnissen von Landwirtschaft, von Handel, von Militär und Wissenschaft, von Service-Systemen wie Gebäude – und Raumreinigung wurde belohnt: Mit Urkunden, mit den kleinen Geschwistern großer Orden: den Abzeichen, mit Orden aller Klassen, militärisch und zivil.

Mit Glasnost und seinen Folgen verschwand dies Belohnungssystem für ganze Gruppen der ganzen Gesellschaft.

In diesem Vortrag von Kollegen aus den Psychiatrien der betroffenen Länder lernte ich auch, daß diese früheren Ehrungen vom Geehrten höher gewertet wurden als Geldprämien. Ehrung ist ein feedback, das lange ansehbar ist und zu ganz anderem An-Sehen führt als – Geld.

Belohnungsentzugsneurose ist eine keine neue Neurose-Form, wohl aber eine Neurose mit einem neuen Hintergrund.

Wie gesund wir doch leben, hier im Ländchen zwischen Elbe und Aller. Denn wir belohnen uns, ehren uns. Jedoch auch bei Ehrungen entscheidet das Maß der Dinge und entscheidet die Dinge: Denn zuviel der Ehre ruft diejenigen auf den Plan des Neidens, die zu wenig oder gar keine haben. Auch so was er führt zu einer Neurose – nur einer anderen.




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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
08. März 2011