Beim Reisen treffe ich
manchmal mehrere Zeitungen am selben Tag. Wie
heute. Die AZ nehme ich von zuhause mit. Die
Hannoversche Allgemeine in Göttingen, die
Badische Presse in Karlsruhe. Überall dasselbe
Thema: "Sommerzeit", Wie schwer doch
die inneren Uhren umzustellen seien! Wie ungesund
das alles ist! Und wie unnötig. Jedenfalls im
Blick auf früher angestrebte (Energiespar-)Ziele!
Als ob wir die Kühe in unseren Ställen wären
oder anderes Viehzeug, das viel mehr berechtigte
Umstellungsmühen mit Melk- und Fütterungszeiten
hat! Ich denke derzeit weniger über Winterzeit
oder im Herbst die Sommerzeit nach. Ich denke an
Zeiten, die immer weniger beobachtbar sind, je präziser
z. B. Sommer- und Winterzeit in uns Europäer
eingehämmert werden. Oder Erdzeiten, Weltzeiten,
astronomische Zeiten. Dafür werden weniger Hoch-Zeiten,
Erntefest-Zeiten, Trauer-Zeiten, Frühlingsfestzeiten.
Und die Karwoche.
Auch die, die Karwoche, ist im öffentlichen Bild
bei uns - weg. (Für Ahnungslose: " Karwoche
" heißt die Woche vor Ostern). Es sei denn,
wir gehen in Kirchen und leben dort den
liturgischen Zirkel des Kirchenjahres mit. Oder
gehen in Dörfer, in denen noch Frühling oder
Ernte gefeiert werden. Über die obligate Disko-Veranstaltung
hinaus, meine ich. Die Rituale der Karwoche
zeigen sich in alemannischen und noch südlicheren
italienischen, spanischen Gebieten deutlicher. Da
wogen die schwarz- oder rot gekleideten
Musikkapellen durch die Straßen, schwingen düstere,
schrille Melodien durch die
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Gassen und über
die Plätze und jeder weiß, dass in dieser Woche
Karwoche ist und warum.
Und fühlt sich nicht belästigt in der persönlichen
Freiheit, auch wenn wir nicht katholisch sind,
sondern als Protestanten, Muslime oder ohne
amtliche Religionsbindung am Straßenrand stehen
und staunen. Und dadurch das Ritual der anderen
mittragen.
Gegenteilig als in Italien, Spanien ging es in
meiner Kindheit in die Karwoche zu.
"Ab jetzt keine Musik mehr! "
tuschelten die vier jungen Tanten und Hausmädchen
in meiner Kindheit. "Kein Tönchen! "
Und tatsächlich wurde die Karwoche über das
Musikverbot im ansonsten musikbegeisterten Haus
der Großeltern eingehalten. Offiziell.
Inoffiziell pfiffen und flöteten, summten und
sangen halbleise, halblaut alle Mitglieder der
Hausgemeinschaft.
Ich glaube, sie gaben noch mehr Töne auf diese
Weise in der Karwoche von sich als sonst. Eben
weil die offiziellen Töne verboten waren. Es war
mit Musik ähnlich wie mit Süßigkeiten. Der
vorherige offizielle Verzicht auf Musik und Süßigkeiten
und Wein führt zum Run auf alles dies Verbotene.
Die Kultivierung von Sommerzeit und Winterzeit in
allen Ehren: Aber Frühlingsbräuche und
Erntefeste wären mir im öffentlichen
Erscheinungsbild wichtiger als die eine Stunde
vor - bzw. nachstellen. Ja, was war das eben
gerade? Vor- oder nachstellen? Hauptsache, wir übersehen
Ostern nicht. In fünf Tagen.
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