Erinnerungen an heute
Hans-Helmut Decker-Voigts Kolumne erscheint alle zwei Wochen in der Uelzer Allgemeinen Zeitung. Hier an dieser Stelle wird es ein- oder zweimal im Monat eine neue Veröffentlichung geben.
Von Sommerzeit und Karwoche

Beim Reisen treffe ich manchmal mehrere Zeitungen am selben Tag. Wie heute. Die AZ nehme ich von zuhause mit. Die Hannoversche Allgemeine in Göttingen, die Badische Presse in Karlsruhe. Überall dasselbe Thema: "Sommerzeit", Wie schwer doch die inneren Uhren umzustellen seien! Wie ungesund das alles ist! Und wie unnötig. Jedenfalls im Blick auf früher angestrebte (Energiespar-)Ziele!
Als ob wir die Kühe in unseren Ställen wären oder anderes Viehzeug, das viel mehr berechtigte Umstellungsmühen mit Melk- und Fütterungszeiten hat! Ich denke derzeit weniger über Winterzeit oder im Herbst die Sommerzeit nach. Ich denke an Zeiten, die immer weniger beobachtbar sind, je präziser z. B. Sommer- und Winterzeit in uns Europäer eingehämmert werden. Oder Erdzeiten, Weltzeiten, astronomische Zeiten. Dafür werden weniger Hoch-Zeiten, Erntefest-Zeiten, Trauer-Zeiten, Frühlingsfestzeiten. Und die Karwoche.
Auch die, die Karwoche, ist im öffentlichen Bild bei uns - weg. (Für Ahnungslose: " Karwoche " heißt die Woche vor Ostern). Es sei denn, wir gehen in Kirchen und leben dort den liturgischen Zirkel des Kirchenjahres mit. Oder gehen in Dörfer, in denen noch Frühling oder Ernte gefeiert werden. Über die obligate Disko-Veranstaltung hinaus, meine ich. Die Rituale der Karwoche zeigen sich in alemannischen und noch südlicheren italienischen, spanischen Gebieten deutlicher. Da wogen die schwarz- oder rot gekleideten Musikkapellen durch die Straßen, schwingen düstere, schrille Melodien durch die

 Gassen und über die Plätze und jeder weiß, dass in dieser Woche Karwoche ist und warum.
Und fühlt sich nicht belästigt in der persönlichen Freiheit, auch wenn wir nicht katholisch sind, sondern als Protestanten, Muslime oder ohne amtliche Religionsbindung am Straßenrand stehen und staunen. Und dadurch das Ritual der anderen mittragen.
Gegenteilig als in Italien, Spanien ging es in meiner Kindheit in die Karwoche zu.
"Ab jetzt keine Musik mehr! " tuschelten die vier jungen Tanten und Hausmädchen in meiner Kindheit. "Kein Tönchen! " Und tatsächlich wurde die Karwoche über das Musikverbot im ansonsten musikbegeisterten Haus der Großeltern eingehalten. Offiziell. Inoffiziell pfiffen und flöteten, summten und sangen halbleise, halblaut alle Mitglieder der Hausgemeinschaft.
Ich glaube, sie gaben noch mehr Töne auf diese Weise in der Karwoche von sich als sonst. Eben weil die offiziellen Töne verboten waren. Es war mit Musik ähnlich wie mit Süßigkeiten. Der vorherige offizielle Verzicht auf Musik und Süßigkeiten und Wein führt zum Run auf alles dies Verbotene.
Die Kultivierung von Sommerzeit und Winterzeit in allen Ehren: Aber Frühlingsbräuche und Erntefeste wären mir im öffentlichen Erscheinungsbild wichtiger als die eine Stunde vor - bzw. nachstellen. Ja, was war das eben gerade? Vor- oder nachstellen? Hauptsache, wir übersehen Ostern nicht. In fünf Tagen.

(6. April 2004)