„Sch…“ im Klinikum

     

Stellen Sie sich vor, der behandelnde Arzt, Chefarzt Dr. Sch… verabschiedet Sie im Klinikum mit den Worten: „Ich werde für Sie beten!“ Nicht nur komisch wäre das, sondern rausreißend aus allem, was klinische Atmosphäre ausmacht.  
Umgekehrt: Stellen wir uns unseren Pastor vor, wie er in einem Gebet für ein krankes Gemeindeglied diese Worte hören lässt: „Gott, wir bitten für Frau Meyer um eine orthetische Versorgung ihrer Rizarthrose“…
Je unerwarteter die gesprochene Sprache ist desto steiler der plötzliche Aufmerksamkeitsgrad derer, die Unerwartetes hören. Eichendorffs Weltgedichtzeile (ich ändere sie ab) „…und triffst du nur das Zauberwort“ verkehrt sich dann in ein entzauberndes Schlagwort, das einschlägt wie ein Blitz. Manchmal reicht sogar ein einziges Wörtchen, um sensationelle Intensität in meinem Zuhören auszulösen.
Das passierte mir jetzt in unserem Klinikum. Unser Klinikum hat das, was jedes gute Klinikum auszeichnet: Klinische Atmosphäre. Blitzblanke Fußböden, grell – bis eiweiße Wand – und Decken – sowie Bettzeugfarben, Glaskästen mit stählernen, chromfarbenen Ersatzgelenken für die dritte Jugend und dem blitzenden chirurgischen Besteck, mit dem die neuen Ersatzteile eingepflanzt werden, das Grau des Stahls in Fahrstühlen -  und die freundlich-hilfsbereiten Stimmen,

 

die die Inhaber der Berufe eines Klinikums zu Helferberufen machen.

Es war ruhiger im Klinikum als sonst, keiner rannte, ich musste kaum warten. „Keine Schulunfälle wegen der Ferien, deshalb…“ Ich saß allein im Warteraum, hörte die freundliche Stimme von Frau M., die mit jemandem telefoniert, dann auflegt, Ruhe, Stille, klinische Atmo…na, Sie wissen schon. Da! In diese hinein höre ich plötzlich dieses eine Wörtchen: „Scheiße“. Einsam, unkommentiert und verlassen schwang es sich aus im Warteraum, dieses kurze Wörtchen…Ob es im Zusammenhang mit dem Telefonat oder verschüttetem Selterswässerchen dem Mund von Frau M. entfloh – es war spontan! Und dass jemand spontan sein darf (im vermeintlichen Alleinsein) – zeigt mitten in klinischer Atmosphäre: Menschen wie Du und ich, zeigt, dass solch „falsches“ Wort menschlicher wirkt als ein korrektes.
Zum Schluss die Wissenschaft: „Sch…“ ist – ein bisschen psychoanalytisch gesehen – ein Ausruf, den wir nur machen, wenn uns etwas abhanden kommt, weggenommen wird (wie dem Kleinkind das Töpfchen, in das die Fabrik seines Körpers Eigentum produzierte). Oder wenn uns etwas entzwei geht, wir nicht kriegen, was wir wollen, wenn eine Funktion nicht funktioniert. Dann durften wir zuhause auch Sch… sagen. Im vermeintlichen Alleinsein.




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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
05. August 2015