„Guck mich an, Junge! Angucken - wenn jemand dir was erzählt oder du ihm!“
Die Mahnung, nein, Anweisung aus der Kindheit fällt mir ein. Sie hallte dann in meinen Ohren, wenn ich Großvater etwas erzählte oder der mir und ich dabei auf das goldgerahmte Madonnenbild hinter ihm starrte. Genauer: Auf das Jesuskind im Arm der Madonna. Noch genauer: Auf die unverhüllte Brust der Madonna, an der das Kind mit einem Gesichtsausdruck nuckelte, welches gemischte Gefühle in mir hervorrief. Neugier, Neid…Ich wäre gern das Jesuskind.
„Angucken, Junge!“, würde ich gerne meinem Dezernenten im Ministerium sagen. Oder diesem einen Versicherungsvertreter. Und noch einigen anderen, die alles Mögliche machen, während ich auf der anderen Seite der Schreibtische sitze und mein Anliegen vortrage. Diese Menschen blättern in Akten, schreiben was auf oder ab, nicken manchmal und murmeln „Mmm“. Ganz gleich, was ich sage. Sie erinnern mich an jene liebesgetöteten Frühstückszeitungsleser, die mit der Zeitungsseite intimer sind als mit der erzählenden Gattin und sich mit dem „Mmm..“ ohne jeden Blickkontakt über Viertelstunden mit der Zeitung und synchron mit dem Lebensgefährten zu unterhalten versuchen. Ohne einmal den Blick zu heben – für einen Augenblick.
Ein Augenblick ist die Zeit zwischen zwei Wimpernschlägen. Diese Zeit kann man dem Gegenüber schenken und manchmal versinkt der Mensch im Blick des Gegenübers und fühlt den Augenblick als einen, zu dem der Dichter sagt: „Verweile doch, du bist so schön…“ Meistens jedoch reicht es, wenn wir den Augenblick als minimale Höflichkeit dem Gegenüber widmen. |
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Bei meinem Versicherungsvertreter habe ich jetzt allen Mut zusammengekratzt: Ich habe mitten in meinem Satz abgebrochen, als der Typ mir einfach keinen halben Blick widmete. Die Nacherziehung klappte! Kurz guckte er überrascht hoch, zeigte sogar den Anflug eines Lächelns und beruhigte mich mit dem Satz: „Sprechen Sie weiter – ich höre Ihnen aufmerksam zu.“ Dann widmete er seinen Augenblick der Uhrzeit, dann seiner Krawatte.
Nachmittags war ich bei Carola, meiner Cousine. Meine elfte Nichte, zweiter Grad. Sie stillte gerade ihr drittes Kind, meinen vierzehnten Großneffen. Carola freute sich über mein Auftauchen und begann gleich und viel zu erzählen. Mit freundlichem Blick zu mir. Ab und an schaute sie runter zu dem Kind, das saugte und seinen Blick aufwärts in das Gesicht von Carola richtete. Wie jenes Kind auf dem Madonnenbild.
Ich hörte Großvaters Stimme: „Angucken, Junge, angucken!“ Laut sagte ich „Angucken, Carola! Angucken!“ Denn wenn ich mein Großneffe wäre, würde ich den Blick meiner Nahrungsquelle genau so brauchen als Nahrung wie die Milch.
Abends beschwerte ich mich bei Christine über diese jungen Mütter von heute, über meinen Vertreter und meinen Dezernenten. Unmöglich diese hektische Zeit, die den Menschen zwei und mehr Sachen zu machen zwingen.
Dann hörte ich Christine. „Angucken, mein Lieber!“ sagte sie. „Bitte angucken, wenn du mit mir sprichst.“ (Ich hatte in dieser Zeitung geblättert). |