Alexander, mein
Nachbar, singt gern. Manchmal richtig laut, aus
voller Seele und Kehle. An Fest- und Feiertagen
kann ich mich -offene Terrassentür vorausgesetzt-
auf Alexanders Gesang punktgenau verlassen. Z.B.
jetzt am 1.Mai schwang sich wieder "Der Mai
ist gekommen..." kraftvoll und geschmettert
mit Klavierverstärkung über den Zaun in meine
und anderer Nachbarn äußeren und inneren Ohrgänge.
Dieses Lied, 1842 komponiert vom Herrn Pastor
Justus W. Lyra in Bevensen, reißt freiwillige
und unfreiwillige Mithörer mit wie Fußballgesänge
im Station.
Jedesmal, wenn ich Anfang Mai den Nachbarn
dieses Lied schmettern höre, macht er mit seinen
Mitsängern eine Pause vor der zweiten Strophe
("Herr Vater, Frau Mutter, dass Gott Euch
behüt, wer weiß, won in der Ferne mein Glück
mir noch blüht..."). Und danach -wieder
Pause.
Schon letztes un vorletztes Jahr fielen mir
diese zwei Pausen auf, nach denen dann Alexanders
Familie die restlichen Strophen zügig
durchdonnert bis zum "O Wandern, o Wandern,
du freie Burschenlust!" (Alexander hat eien
Dreimäderlhaushalt, weswegen die dann "Menschenslust"
singen).
Jetzt wieder. Diese Pausen. Ich fragte ihn
jetzt beim Maiturnier des Ebstorfer Reit- und
Fahrvereins St. Mauritius in Allenbostel nach der
Bedeutung dieser Pausen. Hier ist sie: Immer
schon sang Alexander dies Lied zum Maibeginn.
Auch als seine Erstgeborene aufwuchs. Jedes Jahr.
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Lustvoll sang
diese Ältere, später auch die Jüngere, mit.
Bis sie -mit vier Jahren, den Text jetzt ganz
erfassend- zum ersten Mal bitterlich in Tränen
ausbrach. Bei der 2. Strophe. Befragt, was los
sei, schluchzte das Kind, sie wolle nicht in die
Fremde, nicht weg von Mama und Papa. Sie wolle
keine Straße wegmarschieren und "Wein da
trinken". Dableiben wolle sie und Fanta zum
Feiern trinken.
Alexander und seine Frau trösteten, erklärten,
beteuerten, beruhigten -aber das Kind blieb
verunsichert.
Im nächsten Jahr dasselbe. Nur schlimmer. Das
Kind albträumte in der Nacht vor dem 1. Mai.
Trotz Erklärung und Beruhigung weinte es bereits
bei der 1. Strophe ("So steht auch mir der
Sinn in die weite, weite Welt...").
Sofortiger Abbruch des Liedes. Trösten und
Beteuern, keiner müsse weg und ein anderes
Mailied nützten wenig. Verunsicherung bei allen.
Die Pause vor der 2. Strophe und danach? Ja,
die käme daher, dass sie, Alexander und seine
Frau jetzt, wo die Tochter groß und ausgezogen
ist, diese jeweils am 1. Mai anrufen und ihr
jenes traumatisch besetzte Lied durchs Telefon
singen (müssen). Und mit der Tochter staunen,
wie die Wege des Mai in diese weite, weite Welt
gehen können. Denn ausgerechnet diese Tochter
wurde Fachwirtin für Tourismus, organisiert
Reisen, berät Hotelketten. Trinkt mit ihrem
Oliver Pfälzer und andere unbekannte Weine. Und
reist für ihr Leben gern. Allerdings: Am meisten
nach Hause.
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