Erinnerungen an heute
Hans-Helmut Decker-Voigts Kolumne erscheint alle zwei Wochen in der Uelzer Allgemeinen Zeitung. Hier an dieser Stelle wird es ein- oder zweimal im Monat eine neue Veröffentlichung geben.
Mai

Alexander, mein Nachbar, singt gern. Manchmal richtig laut, aus voller Seele und Kehle. An Fest- und Feiertagen kann ich mich -offene Terrassentür vorausgesetzt- auf Alexanders Gesang punktgenau verlassen. Z.B. jetzt am 1.Mai schwang sich wieder "Der Mai ist gekommen..." kraftvoll und geschmettert mit Klavierverstärkung über den Zaun in meine und anderer Nachbarn äußeren und inneren Ohrgänge. Dieses Lied, 1842 komponiert vom Herrn Pastor Justus W. Lyra in Bevensen, reißt freiwillige und unfreiwillige Mithörer mit wie Fußballgesänge im Station.

Jedesmal, wenn ich Anfang Mai den Nachbarn dieses Lied schmettern höre, macht er mit seinen Mitsängern eine Pause vor der zweiten Strophe ("Herr Vater, Frau Mutter, dass Gott Euch behüt, wer weiß, won in der Ferne mein Glück mir noch blüht..."). Und danach -wieder Pause.

Schon letztes un vorletztes Jahr fielen mir diese zwei Pausen auf, nach denen dann Alexanders Familie die restlichen Strophen zügig durchdonnert bis zum "O Wandern, o Wandern, du freie Burschenlust!" (Alexander hat eien Dreimäderlhaushalt, weswegen die dann "Menschenslust" singen).

Jetzt wieder. Diese Pausen. Ich fragte ihn jetzt beim Maiturnier des Ebstorfer Reit- und Fahrvereins St. Mauritius in Allenbostel nach der Bedeutung dieser Pausen. Hier ist sie: Immer schon sang Alexander dies Lied zum Maibeginn. Auch als seine Erstgeborene aufwuchs. Jedes Jahr.

 Lustvoll sang diese Ältere, später auch die Jüngere, mit. Bis sie -mit vier Jahren, den Text jetzt ganz erfassend- zum ersten Mal bitterlich in Tränen ausbrach. Bei der 2. Strophe. Befragt, was los sei, schluchzte das Kind, sie wolle nicht in die Fremde, nicht weg von Mama und Papa. Sie wolle keine Straße wegmarschieren und "Wein da trinken". Dableiben wolle sie und Fanta zum Feiern trinken.

Alexander und seine Frau trösteten, erklärten, beteuerten, beruhigten -aber das Kind blieb verunsichert.

Im nächsten Jahr dasselbe. Nur schlimmer. Das Kind albträumte in der Nacht vor dem 1. Mai. Trotz Erklärung und Beruhigung weinte es bereits bei der 1. Strophe ("So steht auch mir der Sinn in die weite, weite Welt..."). Sofortiger Abbruch des Liedes. Trösten und Beteuern, keiner müsse weg und ein anderes Mailied nützten wenig. Verunsicherung bei allen.

Die Pause vor der 2. Strophe und danach? Ja, die käme daher, dass sie, Alexander und seine Frau jetzt, wo die Tochter groß und ausgezogen ist, diese jeweils am 1. Mai anrufen und ihr jenes traumatisch besetzte Lied durchs Telefon singen (müssen). Und mit der Tochter staunen, wie die Wege des Mai in diese weite, weite Welt gehen können. Denn ausgerechnet diese Tochter wurde Fachwirtin für Tourismus, organisiert Reisen, berät Hotelketten. Trinkt mit ihrem Oliver Pfälzer und andere unbekannte Weine. Und reist für ihr Leben gern. Allerdings: Am meisten nach Hause.

(04.Mai 2004)