Ober-Schule

     

Das könnte – mit einigen Veränderungen und Kompromissen was werden – mit der Oberschul-Planung. Wenn nur das „Ober“ nicht wäre.

Nein, ich denke nicht an die Schule im österreichischen Kärnten, zu der man früher mußte, wenn man als Kellner gerne Ober-Kellner werden wollte oder sollte. Das war ebenso einsehbar wie die „Offiziersschmiede“ der Vereinigten Evangelischen Lutherischen Kirchen Deutschlands (VELKD) in Pullach/ München, zu der Pastoren heute zur Weiterbildung gehen, wenn sie etwas ober-halb von Pastor werden wollten: Superintendent, Propst und sowas. Das Pullacher Predigerseminar und alle Fort-und Weiterbildungen sind zwar keine Ober-Schulen, aber im übertragenen Sinne: Oberschule.

Jetzt also soll alles ab 5. Klasse eine Oberschule werden. Das klingt oberflächig toll. Dann wird Christine, die seinerzeit „auf Grund-und Hauptschule“ studierte und an eben diesem Beruf gegenwärtig in der Hauptschule sehr hängt – Oberschullehrerin. Und mit ihr alle Haupt- und RealschullehrerInnen auch. Das Schulwesen wird aus Oberschullehrer, Oberschullehrerinnen bestehen, von denen einige so nett sind, noch in der Grundschule zu unterrichten. Oberschullehrer werden sie also auch ohne gymnasialen Zweig, der für meine schlichte Seele bisher nur „Oberschule“ war.

Es fehlt mir bei dieser tollen Planung, daß meine Enkel von der Grundschule gleich in die Oberschule kommen, etwas, was sehr vielen Menschenkennern z.B. dem Karlsruher Philosophen Peter Sloterdijk in Bezug auf die Gesellschaft allgemein fehlt: Die Mitte.
 

Die Mitte fehlt mir zwischen Grundschule und Oberschule. Die abgeschaffte Orientierungsstufe war eine. „Mitte“ ist ebenfalls, was der Psychologie heute im Blick auf den einzelnen Menschen fehlt. Therapeuten und Seelsorger verdienen ihr Geld mit Menschen, die ihre Mitte verloren haben und zwischen Extremen hin und her geschleudert werden: Extreme von menschlicher Nähe und Vereinsamung, von „Zuhause“ und fernen Dienstorten, von Arbeits-Zeit und Frei-Zeit, zwischen Unten und Oben…. Von „politischer Mitte“ wollen wir gar nicht erst reden. Wir trainieren verzeifelt und teuer angemessenes „Umschalten“ (z.B. beim Übergang von Arbeits – zu freier Zeit, von Hochgeschwindigkeit zu Langsamkeit, von Öffentlichem zu Privatem). Dabei gibt es weder für unser Gehirn geschweige unsere Seele ein „Umschalten“. Wir haben die Übergänge verloren und mit ihr die Mitte. „Your Germany has a problem with hierarchy and equality” sagte mir ein japanischer Politiker kürzlich in Osaka. Aus dem höflichen Kontext heraus übersetzt meinte er: „Ihr Deutschen habt eine echte Klatsche mit Hierarchie und Gleichheit“. Horst Eberhard Richter`s Buch in den 70er Jahren „Die deutsche Neurose“ thematisierte unser Gejage hinter Gleichmacherei her – und gleichzeitiger Hierarchie-Sucht. Wir wollen alle alles gleichzeitig sein und haben: Unten und Oben. Besonders oben. Nur leider ist das Glück immer dort, wo wir nicht sind (frei nach Goethe). Warum eigentlich statt Oberschule nicht gleich Hochschule? Schließlich lernen unsere Kinder und Enkel vor der Grundschule schon in Krippe und Kita.

Da erscheinen mir die Übergänge zwischen Hilfskellner, Kellner und Oberkellner gesünder. Und ehrlicher.




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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
02. November 2010