Das Mädchen mit dem...

     

…Perlenohrring, ja, das meine ich. Nein, nicht den gleichnamigen Film, auch nicht den gleichnamigen Bestseller. Ich meine jenes inzwischen ca. 350 Jahre alte Mädchen mit dem Perlenohrring, das Johannes Vermeer malte und das – nach Roman und Film -  gegenwärtig ungefähr bei uns in der BRD so weltberühmt ist wie Mona Lisa oder Heidi Klump. Ich habe mich ebenso verliebt in sie, sowohl im Film als auch jetzt im Original im Mauritshuis in Den Haag. Verliebt in das Abbild jenes Mädchens, das Vermeer in seinem lebendigen Auge genoss: Dieser unschuldig verführerische Blick einer Heranwachsenden aus genau den graublauen Augen mit der großen Pupille, mit dem sie sich mir und leider eben auch dem Maler damals  und all den anderen Millionen in sie Verliebten von heute zudreht - und die halbgeöffneten Lippen unter dem blauen Turban öffnet. Hachja…
Und dann eben die Perle am linken Ohr mit jenem Tupfer Glitzerglanz, der dasselbe Licht widerspiegelt, das auch auf der Unterlippe liegt. Hachja…

Und dann begegnete ich ihr life, lebendig geworden! Auf  dem großen Platz vor dem Museum und Regierungssitz  in Den Haag saß das fleischgewordene Mädchen mit dem Perlenohrring zwei Tische entfernt in einem Cafe´ halb mit dem Rücken mir zugekehrt, so dass ich bei den Rechtsdrehungen ihres Kopfes den Genuss ihrer Wiederauferstehung feierte:
 

Genau diese Halshaltung, nur etwas länger und damit Audrey Hepburn ähnlich. Aber der Blick! Und dieses Glitzern auf der Perle und auf dem Lippenstift der Unterlippe…das Alles unter dem blauen Tuch, das um die geheimnisvoll unbekannt bleibende Haarpracht  gelegt war…Hachja…nur das zweite  gelblich-beige,  unten blaugefranste Tuch fehlte
Mein lebendiges Mädchen mit dem Perlenohrring allerdings rauchte  (wir saßen ja draußen). Bei einem Anzündeversuch der zweiten Zigarette (die sie sich vorher gedreht hatte) sah ich dann die Tätowierung auf ihrem rechten Unterarm – irgendwas mit Drachen. Oder Karpfen. Dann kratzte sich das Mädchen mit der Rechten eben auf dem Drachen oder Karpfen ausgiebig – und warf die Kippe halbgeraucht zu Boden trotz Ascher auf dem Tisch. Zu guter Letzt, nein, zu schlechter Letzt, sah ich sie, wie sie aufstand und den jungen Mann küsste, der ihr gegenüber saß, auch geraucht hatte und beim Abschiedskuss sitzenblieb.
Christine kam dann vom Einkauf im Museumsshop später und sah das Mädchen nur bei dessen Abschiedskuss. Sie klärte mich auf, dass mein wiedererstandenes Mädchen ein Junge war. Weiter klärte sie mich auf, dass dies betörende Mädchen auf  Vermeers Ölgemälde nie wirklich gelebt hat. Vermeer hat nur „Typen“ gemalt…




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Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de

 
02. Juni 2009