Erinnerungen an heute
Hans-Helmut Decker-Voigts Kolumne erscheint alle zwei Wochen in der Uelzer Allgemeinen Zeitung. Hier an dieser Stelle wird es ein- oder zweimal im Monat eine neue Veröffentlichung geben.
Mai

Auf der Rasenfläche vom Nachbarn Havelberg bewegt sich das Kind, indem es nicht geht, nicht läuft, sondern hüpft. Querfeld - bzw. querrasenein steuert es in diesem Hüpfraum zwischen Erde und Himmel auf die abgewaschene, gelackte, wieder bunte Schaukel zu. Sonne, Wärme und vertrauter Lebensraum machen (das Kind) mobil, risikofreudig, spielbereit.
Spätestens mit dem Hören des Datums "1.Mai" strömt die Menschheit nach draußen, wechselt den Lebensraum. Der Winter hat seinen Lebensraum. Der Sommer hat einen anderen und erst recht der Frühling als Übergangszeit. Die Menschheit nutzt ihre Sensoren, um sich in die sprießende Natur einzufädeln und deren Veränderung auch in die innere Welt einzulassen.
Wir sehen wieder ersehnte Farben und Formen, wir hören vermisste Naturstimmen, wir schmecken Sekt oder was immer in der Luft. Wir riechen süße, wohlbekannte Düfte und wir fühlen wieder Wärme und fühlen Gefühle. Ach ja.
Aber mit den Folgen auf die Mai-Reize beginnt auch die Spaltung der Menschheit.
Ein Teil von uns reagiert auf die Mai-Reize, indem er Gedichte schreibt oder vor sich hin trällert oder malt. Frühling als Reinigung des Innenraums.
Ein anderer Teil reagiert, indem er vorwiegend äußerlich reinigt. Die Kippen aus dem Autoaschenbecher am Waldesrand auskippt, die Kisten mit dem Leergut vor die überquellenden Container stellt. Sein winterlich gesammeltes Sperrgut stellt er mangels Sperrgutabfuhr in den Vorgarten so häuft, dass alle Nachbarn seine Sauberkeit des Innenraums noch länger ahnen.

 Die Spaltung vollzieht sich im Trinken und Essen. Die einen trinken in der ersten Sonne um die Wette und stopfen sich mit Saisonalem voll. Die anderen trinken und essen dasselbe wie im Winter. Ja nichts ändern.
Die Spaltung vollzieht sich auch im Blick bzw. im Gehör - auf Fortbewegungsmittel bezogen: Die einen wandern, fahren Rad oder liegen probe an Balkoniens Stränden oder auf grünem Rasengras, sind also leise, um die Mai- Reize zu genießen. Die anderen jagen mit ihren Rasenmähern, Mopeds und Traktoren donnernder über die Erdkruste als schweres Gewitter.
Übergänge wie die Frühlingszeit und Übergänge überhaupt sind Zeiten der Chancen - und der Krisen. Das geht mit dem Übergang vom ersten äußeren Lebensraum, dem Mutterleib, los, vollzieht sich weiter bei jedem Raumwechsel auf dem Arm eines Erwachsenen, beim Wechsel von Wiege zu Karre und vom Kinderzimmer zum Nachbarzimmer, von Kindheit zu Pubertät.
Der spannendste Lebensraum dabei ist immer der eigene innere Erlebensraum: Wie fühlen wir den Mai diesmal? Wie denken wir über ihn - wenn wir denn denken? Was transportiert der Mai an Erinnerungen, was an Phantasien und Erwartungen - diesmal? Körper hat man, Leib ist man. Leibliches Erleben bezieht alle unsere hinreißenden Frühlingsgefühle mit ein. Oder sperrt sie aus.
Das Kind auf dem Nachbargrundstück, das jetzt im schaukelermöglichten Luftraum fliegt und juchzt vor Lust kann es von Natur aus: Innere und äußere Lebensräume verbinden. Manchmal können es die Restkinder in Erwachsenen auch.

(02. Mai 2006)

Den Autor erreichen Sie unter: Prof.Dr.Decker-Voigt@t-online.de