Mit einem schmalen Gedichtband von Erich Kästner, seinem letzten, ziehe ich seit Jahren durch meine Jahre und lese und lese daraus vor, wo immer ich kann. „Die 13 Monate“ heißt es und der Januar beginnt so:
Das Jahr ist klein und liegt noch in der Wiege.
Der Weihnachtsmann ging heim in seinen Wald.
Doch riecht es noch nach Krapfen auf der Stiege.
Das Jahr ist klein und liegt noch in der Wiege.
Man steht am Fenster und wird langsam alt.
Einen meiner Onkel, den ältesten, haben wir zu Advent 2017 begraben. 96 Jahre alt wurde er, aber ich habe ihn nie sagen hören, ob er langsam oder schnell alt wurde. Er war nicht nur unser „Senior“ altersmäßig. Er war ohnehin Fachmann für alle Fragen des Alters, Fragen der Schnelligkeiten, der Distanzen und Langsamkeiten. Astronom war er, Mathematiker und Astrophysiker und von daher Fachmann für alle Fragen, die sich um Zeit drehten.
Als er sieben Jahre alt wurde, belehrte er seine Umgebung damit, dass auch jede kaputte oder auch nur stillstehende Uhr zweimal täglich ganz genau sei. Dann, wenn die gehenden Uhren dieselbe Zeit zeigten wie eine stillstehende. Als er älter wurde lächelte er nur, wenn man in seiner Gegenwart sagte, man „habe keine Zeit“ für dies und das. Er lebte mit dem Bewusstsein, dass erstens die Zeitmessungen aller Zeiten immer wieder nur von uns selbst gemacht |
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wurden. Zweitens wir es sind, die diese immer gleich fließende Zeit so füllen, dass wir sie als erfüllt empfinden. Oder als total überfüllt. Oder zu wenig.
Letztere Empfindung hat die Menschheit abgeschafft, weil sie die Zeitmessungen immer genauer machten. Wer redet schon noch über das Hundertstel einer Sekunde, etwa im Sport. Etwa, wenn wir die elektrische Aktivität unserer Hirnströme messen lassen (müssen), um herauszufinden, welche Tassen wir noch im Schrank unseres Schädels haben..
Bei seinen Vorlesungen veranschaulichte er ruhig, freundlich und schockierend auch gebildete Zuhörer mit dem Hinweis, dass das Pult, auf das er sich gerade stütze, in der physikalischen Wirklichkeit ein Häufchen Staub sei, für dessen Entdeckung man Spezialmikroskope brauche. Meistens aber blickte er durch diese Makro-Teleskope in den Weltraum und kam zum selben Schluss wie Erich Kästner, nur dass der zum Dichten weder Lupe noch Fernrohr nutzte.
Das Jahr ist klein und liegt noch in der Wiege/ Und ist doch hunderttausend Jahre alt/ Es träumt von Frieden. Oder träumts vom Kriege?/ Das Jahr ist klein und liegt noch in der Wiege./Und stirbt in einem Jahr. Und das ist bald. |