Die Tore von Schwester Gerda

     

Wegen einer guten Tat (ich hatte die kranke Eva-Maria zum Zug gefahren) war ich in guter, wegen des nötigenVerzichts auf das EM-Spiel, das schon begonnen hatte, gedämpfter Stimmung. Ich hätte gern in der Hochschule inmitten Studenten und Kollegen mitgefiebert, aber zurückzufahren lohnte nicht. Auf denn in mein einsames Zimmer im Diakonissenmutterhaus Jerusalem, wo ich auf einem Flur mit Schwester Gerda schlafe. In Einzelzimmern natürlich.
Vor dem Türöffnen auf dem Gelände vom Krankenhaus Jerusalem höre ich schon: Eine Fangruppe feiert im begrünten Innenhof EM und mich überfällt tiefes Mitgefühl mit mir, nicht dazuzugehören: In das kleine Zelt mit drei Biergartentischen samt Bänken und Menschen dahinter, davor eine Leinwand, dazwischen der Beamer, darunter Bierkästen. Dahinter eine Bank – und darauf Schwester Gerda mit ihrer liebenswerten Mitschwester. Beide reissen gerade vier Arme hoch, zusammen mit den anderen Armen der Pfleger, Ärzte und Patienten aus der Jerusalem – Klinik sind es ca. 30 Arme. „Tooor! – Oh, nein doch nicht.“ Die gesangstrainierten Stimmen der Diakonissen durchdringen problemlos die kurzen Brüllaffekte vom neuen Geschäftsführer, von der bezaubernden türkischen Ärztin, von der herzlichen Frau, die ein Bier vor mich stellt, mir ein schönes Restspiel wünscht, denn die Schwestern winkten und rückten beiseite. Ein Angela Merkel-Platz für die Schwestern.  Und mich. Mit Lehne.

„Ich halte sowas nie aus - !“ ruft meine Nachbarin nach einem Tor glücklich, „ich halte das einfach nicht aus!“ Später sagt sie in eine dramatische Stille hinein: „Ach ja - Gott weiß schon jetzt, wer gewinnt.“ Es klingt Bedauern durch.
 

Nach dem nächsten Tor bietet mir Schwester Gerda einen „Feigling“ an. Immer nach einem Tor macht der Karton die Runde. Dabei guckt sie weiter auf die Leinwand, als ich auf unser neues Tor trinke. „Nein!“ korrigiert mich Schwester Gerda und erklärt, daß ich für die falsche Seite gejubelt habe. Es gibt bei jedem Tor Feiglinge.
In der Halbzeit geht ein Fragebogen herum. Wer die meisten Fußballfragen richtig beantwortet, der kriegt ein T-Shirt mit EM-Logo. Die Bier-und Schnittchen anbietende liebe Dame mitsamt Fragebogen nähert sich mir. Ich erinnere das Austeilen von gewissen Klassenarbeitsheften und winke entsetzt ab.  Schwester Gerda reißt unsere Ehrenbank raus und rappelt alle Namen der Elf von der Gegenseite runter. Alle elf.
Letzte Spielphase: Ich brülle mit bei aussichtsreichen Attacken und muß mich einmal anschließend entschuldigen, weil meine Begeisterung den benachbarten Diakonissenschenkel, nicht meinen, geschlagen hat.
„Macht nichts,“ sagt meine Nachbarin und dreht Haube samt liebem EM-fiebrigen Gesicht zu mir. Ist das nicht wunderbar?!“ Und jubelt weiter.
„Gott wußte alles schon vorher,“ wiederholt meine Schwester rechts beim Schlußtrunk und die Patientin hinter mir sagt mitleidig. „Der Arme – was muß das langweilig sein!“
Der Geschäftsführer gewann das T-Shirt und Schwester Gerda wurde Zweite. Leider ohne T-Shirt mit Logo. Es hätte ihr so gut gestanden unter der Haube.




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01. Juli 2008